15. Kap. Verteidigung der montanistischen Theorie gegen den Vorwurf der Häresie. Sie schränkt nur die Freiheit auf das notwendige Maß ein.
Wo ist also unsere1 Härte, wenn wir uns von denen, die Gottes Willen nicht tun, lossagen? Wo steckt die Häresie, wenn wir die zweite Ehe als verboten, wie Ehebruch, beurteilen? Denn was ist denn der Ehebruch anders als eine verbotene Ehe? Es tadelt S. 515der Apostel die, welche die Ehe überhaupt verboten und auch überhaupt den Genuß von Speisen verboten, die Gott geschaffen hat. Wir aber heben ebensowenig die Ehe auf, wenn wir die zweite versagen, als wir die Speisen verdammen, wenn wir häufiger fasten. Beseitigen ist denn doch etwas anderes als einschränken, etwas anderes ist es, das Gesetz aufstellen, man dürfe nicht heiraten, etwas anderes, ein Ziel und Maß für das Heiraten festsetzen.
An die, welche uns Härte vorwerfen, oder in dieser Sache Häresie sehen, kann man doch fürwahr die Frage richten, warum sie, wenn sie die Schwachheit des Fleisches so nachsichtig behandeln, daß sie glauben, dieselbe bei mehrmaligem Heiraten ertragen zu müssen, dieselbe Fleischesschwachheit in einem andern Falle weder ertragen noch durch Gewährung der Verzeihung nachsichtig behandeln, dann nämlich, wenn sie durch Martern zum Verleugnen getrieben worden ist. Sicherlich ist eine Entschuldigung für sie2 eher am Platz, wenn sie in der Schlacht, als wenn sie in der Schlafkammer zu Falle gekommen ist, eher wenn sie auf der Folterbank, als wenn sie im Bette unterlegen ist, eher wenn sie der Grausamkeit, als wenn sie der Wollust nachgegeben hat, eher wenn sie unter Ächzen und Stöhnen, als wenn sie in wollüstiger Brunst besiegt worden ist3. Aber jene verstößt man aus der Gemeinschaft, weil sie nicht bis zum Ende ausgehalten hat, diese nimmt man in Schutz4, als hätte sie bis zum Ende ausgeharret. Halte dir vor Augen, worin5 beide nicht bis zum Ende ausgeharret S. 516haben, und du wirst die Sache jener Fleischesschwachheit ehrbarer finden, die die Grausamkeit, als derjenigen, die die Ehrbarkeit nicht zu ertragen vermochte. Trotzdem gereicht die Schwachheit des Fleisches nicht einmal zur ausreichenden Entschuldigung bei dem durch blutige Grausamkeit verursachten Fall, geschweige denn bei dem durch Schamlosigkeit verursachten.
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der Montanisten. ↩
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die Schwachheit des Fleisches. ↩
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Vgl. de pud. 22. ↩
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hanc vero suscipiunt, es ist nicht die Rede von einer Wiederaufnahme in die Kirche. Die Übersetzung „diese Leute nehmen sie wieder auf“ ist deshalb unrichtig. „hanc“ ist die infirmitas carnis bei der Wiederverheiratung, welche man (die Psychiker) ganz anders behandelt als bei der Verfolgung, indem man sie entschuldigt und in Schutz nimmt. ↩
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T. schreibt genau: Propone, quid utraque non sustinuerit. Die Übersetzung: „Nimm an, beide hätten nicht ausgeharrt“ ist deshalb unrichtig; quid ist die Sache, worin sie nicht ausgeharrt hat, die eine nicht in der der blutigen Grausamkeit, die andere nicht in der Ehrbarkeit. ↩