95.
Alsdann werden uns die Fragen nicht mehr verborgen sein, die uns heute noch verborgen sind. Z. B. wenn von zwei Kindern das eine durch Gottes Barmherzigkeit (zur Seligkeit) aufgenommen, das andere aber durch das Gericht verworfen wird, und wenn dann das aufgenommene Kind erkennt, was auch ihm im Gericht verdienterweise zuteil geworden wäre, wäre ihm nicht die Barmherzigkeit zu Hilfe gekommen: warum wird jenes und nicht dieses aufgenommen, da doch beide in gleichen Verhältnissen standen? Oder warum wurden an den einen Menschen die Wundertaten Gottes nicht gezeigt und doch hätten sie diese Menschen zur Buße angetrieben, wenn sie vor ihnen geschehen wären? Warum sind sie vielmehr vor solchen Menschen geschehen, von denen vorauszusehen war, daß sie nicht glauben würden? Solche Fälle gibt es nach dem ganz klaren Wort des Herrn: „Wehe dir, Corozain, wehe dir, Bethsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, die in euch geschehen sind, so hätten sie schon längst in Sack und Asche Buße getan1.“ Und doch ist gewiß das Nichtwollen Gottes bezüglich ihrer Seligwerdung nicht ungerecht, obwohl sie hätten selig werden können, wenn er gewollt hätte2“. Alsdann wird im klarsten Licht des Wissens geschaut werden, was jetzt, wo es noch nicht in offenbarer Erkenntnis geschaut werden kann, der fromme Glaube für wahr hält, wie feststehend nämlich, wie unveränderlich und im höchsten Grad wirksam der Wille Gottes ist, was er alles kann, aber nicht will, S. 478 wie er aber nichts will, was er nicht auch kann und wie wahr es ist, was im Psalm gesungen wird: „Unser Gott aber ist im Himmel oben; im Himmel und auf Erden hat er alles gemacht, was er gewollt hat3.“ Das wäre sicherlich nicht wahr, wenn Gott einmal etwas gewollt, aber dann nicht gemacht hätte oder, was noch unwürdiger wäre, wenn er es deshalb nicht gemacht hätte, weil menschlicher Wille das Werden dessen verhinderte, was der Allmächtige doch machen wollte. Nichts also geschieht, wenn der Allmächtige nicht will, daß es geschehe, sei es nun, indem er zuläßt, daß etwas geschieht oder daß er selbst etwas tut.
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Matth. 11, 21; Luk. 10, 13. ↩
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Die Handschriften haben hier teils vellent, teils vellet; „wir haben hier zweifelsohne eine von den wenigen dogmatisch bedeutsamen Varianten der Schriften Augustins vor uns“ (Scheel S. 77). Man vgl. zu dieser Stelle: P. Odilo Rottmanner, Der Augustinismus. Geistesfrüchte aus der Klosterzelle (München 1908, S. 99―103) ― Theologische Revue 1903, Sp. 478 ff. ↩
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Ps. 113, 11 [hebr. Ps. 115, 3]. ↩