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Wir müssen darum etwas näher zusehen, wie es denn von Gott heißen kann: „. . . der will, daß alle Menschen selig werden1.“ Denn auch so hat der Apostel mit voller Wahrheit gesagt. Da nämlich doch nicht alle Menschen selig werden, ja sogar der größere Teil der Menschen nicht selig wird, so schaut es doch ganz so aus, als geschehe nicht, was Gott will, und S. 479 zwar deshalb, weil der menschliche Wille dem Willen Gottes im Wege steht. Die Antwort auf die Frage, warum denn nicht alle selig werden, pflegt nämlich so zu lauten: weil sie es selbst nicht wollen. Das paßt nun zwar wenigstens nicht für die kleinen Kinder, die weder wollen noch nicht wollen können. Denn wenn wir die äußeren Bewegungen der kleinen Kinder, die sich beispielsweise bei der Taufe manchmal aus Leibeskräften gegen die Taufhandlung sträuben, als einen Ausdruck ihres Willensentschlusses erklären wollten, so müßten wir ja annehmen, daß sie sogar gegen ihren Willen gerettet würden. Indessen spricht der Herr im Evangelium klar genug, da er die gottlose Stadt (Jerusalem) anredete: „Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie die Henne ihre Küchlein, aber du hast nicht gewollt2.“ Das ist doch gerade, als ob der Wille Gottes durch den Willen des Menschen überwunden und der Allmächtigste durch das Nichtwollen der Schwächsten gehindert worden wäre das zu tun, was er wollte. Und wo bleibt da jene Allmacht, kraft deren er „im Himmel und auf Erden alles gemacht hat, was er wollte3“, wenn er zwar den Willen hatte, die Kinder Jerusalems zu sammeln, es aber dann doch nicht getan hat? Oder ist es nicht vielmehr so, daß Jerusalem selbst es nicht wollte, daß seine Kinder von ihm gesammelt würden? Allerdings, aber er selbst hat doch auch gegen den Willen Jerusalems diejenigen von seinen Kindern tatsächlich gesammelt, die er sammeln wollte; so hat er ja überhaupt im Himmel und auf Erden nicht nur einiges gewollt und auch wirklich getan, anderes aber zwar gewollt, aber nicht getan: sondern er hat alles getan, was nur immer er wollte.