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Wer wollte darum so gottlos und so albern sein und behaupten, Gott habe nicht die Macht, den bösen S. 480 Willen des Menschen soweit er wolle, wann er wolle und wo er wolle zum Guten zu wenden? Tut er es aber, so tut er es aus Barmherzigkeit, tut er es aber nicht, so tut er es aus Gerechtigkeit nicht; denn „er begnadigt, wen er will, und er verhärtet auch, wen er will1“. Wo der Apostel dies ausspricht, da preist er die Gnade, zu deren Preis er schon in bezug auf jene Zwillinge im Mutterleib der Rebekka gesprochen hatte: „Noch bevor sie geboren waren und noch bevor sie irgend etwas Gutes oder Böses vollbringen konnten, ward, auf daß der freie Ratschluß Gottes bestehen bleibe, der Mutter nicht um der Werke der Kinder willen, sondern kraft des berufenden (Gottes) gesagt: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen2.“ Zur Erklärung fügt der Apostel noch eine andere Schriftstelle aus dem Propheten (Malachias) hinzu: „Den Jakob habe ich geliebt, den Esau aber gehaßt3.“ Dabei fühlt aber Paulus, wie sehr seine Worte denen zum Anstoß sein könnten, die mit ihrer Erkenntnis nicht zu einer solchen Höhe der Gnade vorzudringen vermögen; darum fährt er fort: „Was werden wir demnach sagen? Ist darum etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne4“ Es scheint nämlich ungerecht zu sein, daß Gott ohne Rücksichtnahme auf gute oder schlechte Werke den einen liebt, den andern aber haßt. Hätte Paulus hiebei an die zukünftigen Werke beider, an die guten des einen und an die bösen des anderen denken wollen, die doch Gott gewiß vorauswußte, dann hätte er doch keinesfalls gesagt: „Nicht um der Werke willen“, dann hätte er vielmehr gesagt: „Um der zukünftigen Werke willen“ und er hätte so die Frage gelöst, nicht aber erst eine Frage zum Lösen gestellt. Nun aber, nachdem Paulus die Antwort gegeben hat: „Das sei ferne!“, d. h. es sei ferne, daß bei Gott Ungerechtigkeit sei, fährt er, um zu zeigen, daß von seiten Gottes keinerlei Ungerechtigkeit geschieht, alsbald mit den Worten fort: „Zu Moses sagt er nämlich: Ich will mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen will S. 481 und ich will Barmherzigkeit erzeigen, wem ich Barmherzigkeit erzeigen will5.“ Denn wer anders als nur ein alberner Mensch möchte Gott für ungerecht halten, wenn er einen, der es verdient, bestraft, aber wenn er dem Barmherzigkeit erweist, der ihrer unwürdig ist? Den Beschluß seines Gedankenganges aber macht der Apostel mit den Worten: „Demnach kommt es nicht auf jemandens Wollen oder Laufen an, sondern auf Gottes Erbarmen6.“ Beide Zwillinge wurden nämlich von Natur aus als Kinder des Zornes geboren7, und nicht wegen ihrer eigenen Werke, sondern infolge ihrer Abstammung von Adam waren sie in die Fessel der Verdammnis geschlagen. Allein derjenige, der gesagt hat: „Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen will8“, hat den Jakob geliebt aus unverdienter Barmherzigkeit, den Esau aber gehaßt nach einem verschuldeten Gericht9. Da jedoch dieses letztere beiden geschuldet wurde, so konnte der eine an des anderen Schicksal erkennen, daß er sich nicht eigener (von denen seines Bruders) verschiedener Verdienste rühmen dürfe, weil er trotz der gleichen Schuldverhältnisse doch nicht die gleiche Verurteilung erfuhr, sondern daß er sich nur des Reichtums der göttlichen Gnade rühmen dürfe. Denn „nicht auf jemandens Wollen oder Laufen kommt es an, sondern auf Gottes Erbarmen10.“ ― Der ganze Anblick, ja ich möchte sagen, das ganze Angesicht der Heiligen Schriften zeigt demnach denen, die sie genau betrachten, im erhabensten und heilsamsten Geheimnis stets die eine Lehre: „Wer sich rühmt, der rühme sich im Herrn11!“