110.
Dabei darf nicht in Abrede gestellt werden, daß die Seelen der Abgestorbenen dank der Frömmigkeit ihrer noch lebenden Angehörigen Erleichterung finden, wenn für sie das Opfer des Mittlers dargebracht oder Almosen in der Kirche gespendet wird. Aber nur solche haben davon Nutzen, die es während ihres Lebens verdient haben, daß es ihnen später einmal nutzen kann. Es gibt nämlich eine Art zu leben, die nicht so gut ist, daß sie eine solche Hilfe nach dem Tode nicht brauchte, die aber doch auch nicht so schlecht ist, daß eine solche Hilfe nach dem Tode nicht mehr helfen könnte. Es gibt ferner eine so gute Art zu leben, daß es dergleichen Hilfe gar nicht mehr bedarf, und es gibt hinwiederum eine so schlechte Art zu leben, daß nach dem Hinscheiden aus diesem Leben eine Hilfe gar nicht mehr möglich ist. Somit wird alles Verdienst, das jemandem nach diesem Leben zur Erleichterung oder zur Belastung gereichen kann, schon hier auf Erden erworben. Niemand aber soll sich der Täuschung hingeben, es werde ihm das, was er auf Erden verabsäumt, bei seinem Tode von Gott als Verdienst zugeteilt werden. Es verstößt also auch das, was die Kirche zum Trost der Verstorbenen zu tun pflegt, nicht gegen den apostolischen Ausspruch: „Wir werden alle S. 493 vor dem Richterstuhl Gottes stehen, damit ein jeder, je nachdem er in seinem Leben Gutes oder Böses getan hat, darnach empfange1.“ Denn schon (die Gnade), daß er von jenen (nach seinem Tode für ihn aufgeopferten guten Werken) einen Nutzen hat, muß sich einer verdienen, solange er noch in seinem Leibe lebt. Es haben auch wirklich nicht alle Menschen einen Nutzen (von jenen guten Werken). Und warum nicht? Weil auch das Leben verschieden war, das ein jeder auf Erden führte. Wird also das Opfer des Altares oder irgendeines Almosens für alle verstorbenen Getauften dargebracht, so bedeutet es für die sehr guten Christen ein Dankopfer, für die nicht gerade sehr schlechten ein Sühneopfer, für die sehr schlechten allerdings kein Hilfsmittel für die Toten, aber immerhin einen gewissen Trost für die Lebendigen. Wem jenes Opfer aber überhaupt einmal nützt, dem nützt es so, daß entweder die Verzeihung eine vollständige oder gar die Verdammnis selbst eine erträglichere wird.
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2 Kor. 5, 10; vgl. Röm. 14, 10. ↩