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Welche Sünden aber leicht und welche schwer sind, das läßt sich durch kein menschliches, sondern nur durch ein göttliches Gericht abwägen1. So sehen wir, daß sogar von den Aposteln gar manches nachsichtig gestattet worden ist (was sonst als Sünde gilt); so z. B. wenn der ehrwürdige (Apostel) Paulus zu den Ehegatten spricht: „Entziehet euch einander nicht, es sei denn nach Übereinkunft für kurze Zeit, um (desto S. 465 ungestörter) dem Gebete obliegen zu können; dann aber kommt wieder zusammen, damit euch Satan nicht versuche, wenn ihr euch nicht (lange) enthalten könnt2.“ Demnach könnte man meinen, es sei keine Sünde, dem Ehegatten beizuwohnen, nicht zum Zwecke der Kindererzeugung, was ja ein eheliches Gut ist, sondern selbst aus Fleischeslust, (wenn es nur geschehe) mit der Absicht, auf daß die Schwäche der Unenthaltsamen auf diese Weise die todbringende Sünde der Hurerei oder des Ehebruches oder jener anderen Art von Unreinheit vermeide, deren bloße Nennung schon schändlich ist, wozu sich aber der begehrliche Sinn (der Menschen) durch die Versuchung des Satans nur zu gerne verleiten läßt. Wie gesagt, man könnte jenen Ausspruch so auffassen, als sei es keine Sünde; es hat jedoch der Apostel noch hinzugefügt: „Dies sage ich aber nur als ein Zugeständnis, keineswegs als Befehl3.“ Wer möchte nunmehr noch leugnen, daß (geschlechtlicher Verkehr) an sich Sünde ist? Muß er ja doch zugestehen, daß kraft apostolischer Machtvollkommenheit denen, die so handeln, nur ein Zugeständnis gemacht worden ist. ― Noch von einem anderen Fall spricht der Apostel: „Wagt es einer von euch, einen Rechtsstreit gegen seinen Mitbruder zu haben und diesen dann noch dazu vor einem ungerechten (heidnischen) Richter und nicht vor einem gläubigen (christlichen) entscheiden zu lassen4?“ Kurz darauf (fährt Paulus dann fort): „Habt ihr nun bloß weltliche Streithändel, so ruft nur die (ersten besten, auch die) niedrigsten Gemeindemitglieder als Richter auf! Zu euerer Beschämung sage ich es: Ist denn keiner von euch verständig genug, um unter Brüdern Streitigkeiten schlichten zu können? Muß denn der Bruder mit dem Bruder Prozesse führen und noch dazu vor Ungläubigen5?“ Auch hier könnte man glauben, es sei keine Sünde, überhaupt einen Prozeß mit seinem Mitmenschen zu haben, sondern Sünde sei nur dessen Austragung außerhalb der Kirche. Doch fügt S. 466 der Apostel gleich noch weiter hinzu: „Schon das ist ein Mangel, daß ihr überhaupt Streitigkeiten miteinander habt6.“ Und damit sich nicht vielleicht jemand damit entschuldige, daß er sagt, seine Sache sei ja eine gerechte und er wolle durch die Anrufung des richterlichen Beistandes ja nur das Unrecht abwehren, das er erleiden müsse, so tritt Paulus derartigen Gedanken und Entschuldigungen sofort mit den Worten entgegen: „Warum leidet ihr nicht lieber Unrecht; warum laßt ihr euch nicht lieber übervorteilen7?“ Damit kommt er auf das Wort des Herrn zurück: „Wenn dir jemand deinen Rock nehmen und um ihn vor Gericht mit dir streiten will, so laß ihm auch noch den Mantel8!“, und auf jenes andere: „Von demjenigen, der dir das Deinige nimmt, fordere es nicht zurück9!“ Der Herr hat es also den Seinigen verboten, um weltliche Dinge mit anderen Menschen einen Rechtsstreit zu führen, und auf Grund dieser Lehre bezeichnet der Apostel derartiges als Mangel10. Da er indes zuläßt, daß in der Kirche solche Rechtshändel unter Brüdern ausgemacht werden, falls Brüder dabei die Richter sind, während er solche Händel außerhalb der Kirche aufs ernstlichste verbietet, so ist ganz klar, wie weit auch in diesem Falle das Zugeständnis an die Schwäche geht. Wegen solcher und ähnlicher Sünden und wegen anderer Wort- und Gedankensünden, die vielleicht noch kleiner sind – sagt ja doch der Apostel Jakobus ganz offen: „In vielen Dingen verfehlen wir uns alle11“ –, müssen wir täglich und häufig Gott mit der Bitte anrufen: „Vergib uns unsere Schulden“, dürfen Gott aber auch nicht in dem anlügen, was gleich darauf folgt: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern12.“