21. Kapitel: Die babylonische Gefangenschaft des israelitischen Volkes und ihre mystische Bedeutung
37. Nach einer Reihe von Geschlechtern aber zeigte Gott seinem Volke ein ganz besonders sprechendes Vorbild. Jenes [israelitische] Reich geriet nämlich in fremde Gewalt und ein großer Teil [der Juden] wurde nach Babylonien abgeführt. Wie nun Jerusalem das Reich und die Gemeinschaft der Heiligen sinnbildet, so sinnbildet Babylon das Reich und die Gemeinschaft der Bösen; denn Babylon soll soviel bedeuten wie „Verwirrung1 “. Daß diese beiden Reiche vom Anbeginn des Menschengeschlechtes bis zum Ende der Welt zu den verschiedenen Zeiten untereinander gemischt sind und erst beim letzten Gerichte voneinander geschieden werden sollen, davon haben wir kurz vorher gesprochen2 . Die erwähnte Eroberung der Stadt Jerusalem also und die Abführung des Volkes in die babylonische Gefangenschaft wurde durch den damals lebenden S. 288Propheten Jeremias von Gott anbefohlen3 . Unter den babylonischen Königen, in deren Knechtschaft die Juden standen, gab es einige, die bei dieser Gelegenheit durch verschiedene Wunderzeichen zur Erkenntnis des einen wahren Gottes, des Schöpfers aller Dinge, gelangten, ihm dienten und auch [ihre Untertanen] zu seinem Dienste anhielten4 . Die Juden selber aber mußten für die, von denen sie gefangen gehalten wurden, beten, auf daß auch sie Frieden hätten, wenn jene Frieden hielten, und [in Frieden] Kinder erzeugen, Häuser bauen und Gärten und Weinberge anlegen könnten5 . Nach siebzig Jahren wurde ihnen die Befreiung aus dieser Gefangenschaft verheißen6 .
All dies aber deutete vorbildlich an, wie die Kirche Christi in all ihren Heiligen, welche dem himmlischen Jerusalem als Bürger angehören, unter der Knechtschaft der Könige dieser Welt stehen muß. Sagt ja doch auch die apostolische Lehre: „Jedermann sei Untertan den obrigkeitlichen Gewalten7 ”, und „einem jeden werde alles gegeben [was ihm zusteht]: Steuer, wem Steuer, Zoll, wem Zoll gebührt8 !“ Und so soll es bei allen Abgaben sein, die wir unter Wahrung des Dienstes unseres Gottes den Fürsten der menschlichen Gesellschaft leisten. Hat es ja doch der Herr selbst, um uns diese Lehre durch sein Beispiel als die rechte zu bekräftigen, nicht unter seiner Würde gehalten, als Mensch, dessen Natur er angenommen hatte, Kopfsteuer zu bezahlen9 . Aber auch die christlichen Knechte und die guten Gläubigen sollen in Herzenseinfalt und Treue10 ihren weltlichen Herren dienen, über die sie entweder einst richten sollen, wenn diese bis ans Ende ungerecht befunden werden, oder mit denen sie gleichberechtigt S. 289herrschen sollen, wenn sie sich zum wahren Gott bekehren. Alle aber müssen den menschlichen und irdischen Gewalten nur bis zum vorher bestimmten Zeitpunkt dienen, was die siebzig Jahre andeuten wollen, wo dann die Kirche ebenso wie einstmals Jerusalem von der Verwirrung dieser Welt wie aus einer babylonischen Gefangenschaft befreit wird. Unter dem Einfluß dieser Gefangenschaft haben sogar auch irdische Könige ihre falschen Götter, um deretwillen sie die Christen verfolgten, verlassen, den einen wahren Gott und Herrn Jesus Christus anerkannt und sich seinem Dienste ergeben; für diese Könige befiehlt der Apostel Paulus auch dann zu beten, wenn sie die Kirche verfolgen. Denn also spricht er: „Zuerst beschwöre ich euch also, es möchten doch Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen geschehen für die Könige, für alle Menschen und für alle Obrigkeiten, auf daß wir ein friedliches und ruhiges Leben in aller Gottseligkeit und Liebe führen mögen11 .“ So ist durch diese Obrigkeiten der Kirche ein wenn auch nur zeitlicher Friede und zeitliche Ruhe zuteil geworden, um geistigerweise Häuser zu bauen und Gärten und Weinberge anlegen zu können. Denn siehe, hat nicht unser ganzer Vortrag nur das Ziel, dich zu erbauen und zu pflanzen? Und unter dem Friedensschutz christlicher Könige geht es so auf der ganzen Erde nach dem Worte des gleichen Apostels Paulus: „Gottes Ackerfeld, Gottes Gebäude seid ihr12 .“
38. Nach jenen siebzig Jahren nun, die Jeremias geheimnisvollerweise als Vorbild des Endes der Zeiten vorhergesagt hatte13 , wurde, um das Bild vollständig zu machen, in Jerusalem der Tempel Gottes aufs neue aufgebaut; weil jedoch dies alles immer noch nur vorbildlich geschah, so erhielten die Juden noch nicht den vollen Frieden und die volle Freiheit. Darum wurden sie nachher von den Römern unterworfen und zinspflichtig gemacht. Von der Zeit an, wo sie das Gelobte Land S. 290erhielten und Könige zu haben begannen, wurde ihnen immer deutlicher durch eine Menge von Prophezeiungen Christus vorher verkündigt, damit sie nicht glauben sollten, die Verheißung von Christus, dem Befreier, sei bereits in einem ihrer Könige in Erfüllung gegangen. [Diese Prophezeiungen geschahen] nicht allein von David selbst in seinem Psalmenbuch, sondern auch von all den anderen großen und heiligen Propheten bis zur babylonischen Gefangenschaft. Ja selbst in der Gefangenschaft erstanden Propheten, welche die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus als des allgemeinen Befreiers vorhersagten. Später aber, als nach Ablauf der siebzig Jahre auch der Tempel wieder aufgebaut war, da hatten die Juden solche Bedrückungen und solches Ungemach von seiten der heidnischen Könige zu erdulden, daß sie einsehen mußten, es sei der Befreier noch nicht erschienen. Daß der Befreier allerdings ein geistiger sein werde, das wollten sie nicht einsehen, ihr Verlangen stand nur nach der Befreiung vom irdischen Joch.
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Gen. 11,9. ↩
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Kap. 19,31. ↩
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Jerem. 27. ↩
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Dan. 2,46ff. [König Nabuchodonosor]; 3,95ff. [Nabuchodonosor]; 4,34 [Nabuchodonosor]; 6,25ff. [Darius]. ↩
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Nach Jerem. 29,5ff. ↩
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Jerem. 29,10. ↩
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Röm. 13,1. ↩
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Vgl. ebd. 13,7. ↩
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Matth. 17,24ff. ↩
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Kol. 3,22; Eph. 6,5. ↩
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Vgl. 1 Tim. 2,1f. ↩
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1 Kor. 3,9. ↩
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Jerem. 29,10. ↩