3.
Da es also sowohl beim Gesetz, wie auch bei den Propheten drei Kategorien gibt, ist es nicht ohne weiteres klar, auf welche von ihnen Jesus seinen Satz (Mt. 5,17) bezogen hat; aus der Fortsetzesung des Textes lässt es sich aber erschliessen. Wenn er nämlich gleich nachher die Vorschriften bezüglich Beschneidung, Sabbatruhe, Opfer und all der Hebräischen Rituale genannt und dabei einen Hinweis auf deren Vollendung eingeflochten hätte, dann wäre gar kein Zweifel möglich, dass er jenen Satz, dass er gekommen sei, nicht um sie aufzuheben, sondern sie zu vollenden, auf das Gesetz und die Propheten der Juden bezog. Da er aber nichts von all dem erwähnt, sondern nur einige Gebote aus älterer Zeit aufzählt, etwa: Du sollst nicht töten (Mt. 5,21/ exod. 20,13; deut. 5,17), du sollst nicht die Ehe brechen (Mt. 5,27/ exod. 20,14; deut. 5,18), du sollst keinen Meineid schwören (Mt. 5,33/ lev. 19,12) – diese Gebote waren seit Urzeiten bei den Heidenvölkern in Geltung, wie man das leicht nachweisen kann; sie waren einstmals durch Enoch, Seth und Gerechte wie sie unters Volk gebracht worden, nachdem sie ihnen selber von strahlenden Engeln überreicht worden waren (cf. CMC 47-62 Fs. Assmann S. 92, Anm. 66), um mit ihrer Hilfe die rohe Natur der Menschen zu bändigen –, wem würde es da nicht naheliegend erscheinen, dass sich jenes Wort (Mt. 5,17) auf das Gesetz der Wahrheit und auf ihre Propheten bezog? Schliesslich lässt sich gar beweisen, dass sich jene Vollendung, die Jesus versprochen hat, auf eben diese Gebote bezieht. Was sagt er nämlich? Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt wurde: ‘Du sollst nicht töten’ (exod. 20,13; deut. 5,17); ich aber sage euch: Nicht einmal zornig werden sollt ihr (cf. Mt. 5,21); das ist doch die Vollendung des Gebotes. Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‛Du sollst nicht die Ehe brechen’ (exod. 20,14; deut. 5,18); ich aber sage euch: nicht einmal gierig danach sollt ihr sein (cf. Mt. 5,27); das ist doch die Vollendung des Gebotes. Es wurde gesagt: ‛Du sollst nicht falsch schwören’ (lev. 19,12); ich aber sage euch, nicht einmal schwören sollt ihr (Mt. 5,33); auch das ist die Vollendung des Gebotes. Denn bei all diesen Geboten verschärft Jesus die frühere Fassung und fügt hinzu, was dort fehlte. Sobald er aber Gebote nannte, die offensichtlich den Juden eigen sind, vervollständigte er sie nicht, im Gegenteil, er verwarf sie gänzlich und kehrte sie ins Gegenteil um. Wie fährt er nämlich fort? Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‛Aug um Aug, Zahn um Zahn’ (exod. 21,24; deut. 19,21); ich aber sage euch: wenn einer dich auf die Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin (cf. Mt. 5,38); das ist doch schon die Zerstörung des Gesetzes. Weiter sagte er (Mt. 5,43): ‘Es ist gesagt worden: du sollst deinen Freund lieben und deinen Feind hassen’ (lev. 19,18); ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen; auch das ist Zerstörung des Gesetzes. Es ist gesagt worden: ‛Wer seine Frau aus der Ehe entlassen will, muss ihr eine Scheidungsurkunde geben’ (deut. 24,1); ich aber sage: wer immer seine Frau aus der Ehe entlässt, ausser dem Fall der Unzucht, liefert sie dem Ehebruch aus, und er wird selber Ehebrecher sein, wenn er später eine andere heiraten wird. Es ist doch offensichtlich, dass dies Gebote des Moses sind, und dass sie deshalb zerstört wurden, jenes aber Gebote der Gerechten des Altertums, und dass sie deshalb vollendet wurden. Wenn du dich dieser Deutung anschliessen kannst, wird es auch nicht mehr absurd sein zu glauben, dass Jesus diesen Satz, er sei nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vollenden (Mt. 5,17) wirklich gesprochen hat. Wenn dir aber unsere Interpretation missfällt, dann musst du eine andere suchen! Lass dich nur nicht dazu zwingen, Jesus als Lügner zu bezeichnen, oder aber Jude zu werden, um nicht weiter das Gesetz aufzuheben, das Jesus selber gar nicht aufgehoben hat.