4. Kapitel. Bevor Gott geliebt werden kann, muß er in irrtumslosem Glauben erkannt werden.
6. Doch muß man in Liebe bei diesem Gute stehenbleiben und ihm anhangen, auf daß wir die Gegenwart S. 23 dessen genießen, von dem wir sind, dessen Abwesenheit auch unser Sein unmöglich machen würde. Da wir nämlich „noch im Glauben wandeln, nicht im Schauen“,1 sehen wir, wie derselbe Apostel sagt, Gott naturgemäß noch nicht „von Angesicht zu Angesicht“.2 Wenn wir ihn jedoch jetzt nicht lieben, werden wir ihn niemals sehen. Wer aber kann lieben, was er nicht kennt? Es kann etwas zwar gewußt und nicht geliebt werden. Doch ich frage, ob etwas geliebt werden kann, von dem man nichts weiß. Wenn das nicht möglich ist, dann liebt niemand Gott, bevor er ihn kennt. Und was heißt Gott kennen anders, als ihn geistig schauen und bestimmt erfassen? Er ist ja kein Körper, so daß man ihn mit leiblichen Augen suchen könnte. Aber auch bevor wir Gott zu schauen und zu erfassen vermögen, wie er geschaut und erfaßt werden kann — den Herzensreinen ist dies gestattet: „Selig sind“ nämlich „die Herzensreinen, denn sie werden Gott anschauen“3 —, muß er im Glauben geliebt werden, sonst kann das Herz nicht gereinigt werden, auf daß es zu seiner Schau geeignet und befähigt werde. Denn wo sollen jene drei, zu deren Aufbau in der Seele alle göttlichen Bücher hergestellt sind und zusammenwirken, nämlich Glaube, Hoffnung und Liebe,4 anders sein als in der Seele, die glaubt, was sie noch nicht sieht, und erhofft und liebt, was sie glaubt. Es wird also jener schon geliebt, der noch nicht gekannt, aber doch geglaubt wird. Freilich muß man sich dabei hüten, daß die gläubige Seele sich von dem, was sie noch nicht schaut, eine der Wirklichkeit nicht gemäße Vorstellung bildet, und etwas erhofft und liebt, was falsch ist. Wenn das geschieht, dann wird es keine Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben sein, der das Endziel des Gesetzes ist, wie derselbe Apostel sagt.5
S. 24 7. Wenn wir aber an irgendweiche körperlichen Dinge glauben, von denen wir gelesen oder gehört haben, und die wir nicht gesehen haben, dann muß sich die Seele, wie es sich in ihre Vorstellungsweise eben einfügt, ein Bild mit körperlichen Umrissen und Formen machen, das entweder ganz selten richtig ist, oder wenn es, was einmal zutreffen kann, richtig ist, doch jenem, der es gläubig festhält, keinen Nutzen bringt, sondern für etwas anderes nützlich sein mag, worauf durch dies Bild hingewiesen wird. Welcher Leser oder Hörer der Schriften des Apostels Paulus oder der Schriften über ihn würde sich etwa im Geiste nicht auch das Antlitz des Apostels selbst ausmalen und aller jener, deren Namen in den Schriften erwähnt werden? Und da sich bei der großen Menge von Menschen, denen jene Schriften bekannt sind, der eine die Umrisse und Gestalt jener Leiber so, der andere anders vorstellt, so bleibt naturlich ungewiß, welche Vorstellung der Wirklichkeit am nächsten kommt und am ähnlichsten ist. Doch hält sich unser Glaube nicht auf bei dem leiblichen Aussehen jener Menschen, sondern nur bei dem Leben, das sie durch die Gnade Gottes geführt haben, bei den Taten, welche die Schrift von ihnen bezeugt. Das zu glauben ist nützlich; das ist auch nicht zu bezweifeln. Dem ist auch nachzustreben. Denn auch das Antlitz des Herrn wird in zahllosen, verschiedenen und wechselnden Vorstellungsbildern ausgemalt, wenngleich es nur eines war, wie immer es auch war. Denn in unserem Glauben, den wir vom Herrn Jesus Christus haben, ist auch nicht die Vorstellung, die sich die Seele macht und die vielleicht von der Wirklichkeit weit entfernt ist, heilskräftig, sondern das, was wir von der menschlichen Erscheinung Christi halten. Der menschlichen Natur ist nämlich gleichsam wie ein Gesetz ein Begriff eingeprägt, nach dem wir sogleich, wenn wir eine solche Erscheinung erblicken, darin einen Menschen oder die Gestalt eines Menschen erkennen.
