3. Kapitel. Auch der Geist liebt sich nicht als etwas Unbekanntes.
5. Was also liebt der Geist, da er sich inbrünstig sucht, um sich kennenzulernen, wenn er sich unbekannt ist? Siehe, der Geist sucht sich selbst, um sich kennenzulernen, und wird zu diesem Bemühen entflammt. Er liebt also. Aber was liebt er? Sich selbst? Wie kann das sein, da er sich noch nicht kennt, und niemand S. 75 lieben kann, was er nicht weiß? Hat ihm ein Gerücht Kunde zugetragen von seiner Schönheit, wie wir in dieser Weise von Abwesenden zu hören pflegen? Vielleicht liebt er also gar nicht sich selbst, sondern liebt die Vorstellung, die er sich von sich macht, und die vielleicht ganz anders ist als er selbst. Oder wenn der Geist eine ihm ähnliche Vorstellung von sich bildet und daher, wenn er diese Vorstellung liebt, sich liebt, bevor er sich kennt, weil er etwas ihm Ähnliches schaut, dann kennt er vielleicht andere Geister, auf Grund deren er sich eine Vorstellung von sich selbst bildet, und ist sich eben in seinem Allgemeinwesen bekannt. Warum also kennt er, da er andere Geister kennt, sich selbst nicht, da ihm doch nichts gegenwärtiger sein kann als er selbst? Wenn es so wäre wie bei den Augen des Leibes, denen andere Augen bekannter sind als sie sich selbst, dann würde er sich nicht suchen, da er ja niemals sich finden würde. Niemals werden sich ja die Augen außerhalb des Spiegels sehen; und man darf in keiner Weise glauben, daß man auch für die Schau unkörperlicher Dinge solche Mittel anwenden kann, so daß der Geist sich gleichsam im Spiegel kennt. Oder sieht er etwa in den Wesensgründen der ewigen Wahrheit, wie schön es ist, sich selbst zu kennen, und liebt er dann, was er sieht, und bemüht sich darum, daß es in ihm selbst verwirklicht werde? Es wäre dem Geiste dabei, wenn er auch sich selbst unbekannt ist, doch bekannt, wie gut es ist, sich selbst bekannt zu sein. Indes da wäre doch sehr verwunderlich, daß der Geist sich selbst noch nicht kennt, ihm aber schon bekannt ist, wie schön es ist, sich zu kennen. Oder sieht er etwa ein sehr gutes Ziel, nämlich seine Geborgenheit und Seligkeit, durch irgendein geheimes Gedächtnis, das ihn, als er in die Fernen fortging, nicht verließ, und glaubt er nun, daß man zu diesem Ziele nur gelangen könne, wenn man sich selbst keimenlernt? Während er so das eine liebt, sucht er das andere; das S. 76 eine liebt er als Bekanntes, um seinetwillen sucht er das Unbekannte. Warum aber konnte die Erinnerung an seine Seligkeit fortdauern, während mit ihr die Erinnerung an ihn selbst nicht zugleich fortdauern konnte, so daß er, der zum Ziele gelangen will, sich ebenso kennt, wie jenes Ziel, zu dem er gelangen will? Oder ist es so, daß er, wenn er es liebt, sich zu kennen, nicht sich, den er noch nicht kennt, sondern das Kennen selbst liebt, und daß er bitter daran trägt, daß er selbst seinem Wissen fehlt, mit dem er alles umfassen will? Er kennt aber, was Kennen ist, und indem er das liebt, was er kennt, wünscht er auch sich zu kennen. Wie soll er also sein Kennen kennen, wenn er sich nicht kennt? Er kennt ja, daß er anderes kennt, sich aber nicht kennt; daher weiß er ja auch, was Kennen ist. Wie also weiß er sich als einen Wissenden, wo er von sich selbst nichts weiß? Er weiß ja nicht einen anderen Geist als Wissenden, sondern sich selbst. Er weiß also von sich selbst. Denn, wenn er sich sucht, um sich zu kennen, dann kennt er sich schon als Suchenden. Also kennt er sich schon. Deshalb kann er sich nicht ganz und gar nicht kennen, da er, wenn er sich als Nichtwissenden weiß, sich sicherlich weiß. Wenn er sich aber nicht als Nichtwissenden wüßte, dann suchte er sich nicht, um von sich zu wissen. Eben dadurch also, daß er sich sucht, wird dargetan, daß er sich mehr bekannt als unbekannt ist. Er kennt sich ja als einen Suchenden und Nichtwissenden, wenn er sich sucht, um sich zu kennen.
