10. Kapitel. Die Erzeugung von Phantasievorstellungen auf Grund von Sinneswahrnehmungen.
17. Wenn wir uns aber nur an das erinnern, was wir wahrgenommen haben, und nur das denken, woran wir uns erinnern, warum denken wir dann so oft Falsches, da wir uns doch an das, was wir wahrgenommen haben, nicht falsch erinnern? Warum anders als deshalb, weil der Wille, den bei diesen Vorgängen als einende und sondernde Kraft so gut ich konnte, aufzuweisen meine Sorge war, die Sehkraft des Denkenden, auf daß sie geformt werde, nach Belieben durch die geheimen Bereiche des Gedächtnisses führt und antreibt, aus dem Bestande unserer Erinnerungen bald hier, bald dort etwas zu nehmen, damit sie sich eine Vorstellung von S. 123 dem bilden kann, woran wir uns nicht erinnern? Wenn sich nun das zu einer Schau zusammenfügt, dann stellt es ein Gebilde dar, das deshalb falsch genannt wird, weil es entweder draußen in der Natur der körperlichen Dinge nicht existiert oder nicht als Ausdruck des Gedächtnisses erscheint, da wir uns nicht erinnern, etwas Derartiges wahrgenommen zu haben. Wer hat zum Beispiel schon einen schwarzen Schwan gesehen? Deshalb erinnert sich auch niemand an ihn. Wer könnte sich jedoch keinen solchen denken? Leicht ist es ja, die Gestalt, die wir vom Sehen kennen, in eine schwarze Farbe zu tauchen, welch letztere wir wiederum an anderen Körpern gesehen haben; und weil wir beides wahrgenommen, erinnern wir uns an beides. Ich erinnere mich auch keines vierfüßigen Vogels, weil ich keinen gesehen habe. Aber ganz leicht kann ich ein solches Vorstellungsbild schauen, indem ich zu einer fliegenden Gestalt, die ich gesehen habe, zwei weitere Füße, die ich ebenfalls gesehen habe, hinzudenke.1 Wenn wir sonach verbunden denken, was wir gesondert wahrgenommen haben und woran wir uns also gesondert erinnern, dann entsteht der Eindruck, als ob wir etwas dächten, woran wir uns nicht erinnern, während wir dies doch gerade unter der Leitung des Gedächtnisses tun, von dem wir alles nehmen, was wir vielfältig und verschiedenartig nach unserem Willen zusammenfügen. Denn auch die Größe der Körper, die wir nicht gesehen haben, denken wir nicht ohne Hilfe des Gedächtnisses. So viel Raum nämlich unser Blick über die Größe der Welt hin zu umgreifen vermag, so weit lassen wir die Masse der Körper ausgedehnt sein, wenn wir sie uns möglichst groß denken. Der Verstand kann freilich noch weiter voranschreiten, aber die Vorstellungskraft kommt nicht S. 124 mehr mit. Der Verstand kann ja auch die Unendlichkeit der Zahl vermelden, die noch keine Schau bei der Vorstellung des Körperlichen erfaßt hat. Eben der Verstand belehrt uns auch, daß auch noch die winzigsten Körperchen unendlich geteilt werden können; wenn man jedoch zu jenen Feinheiten und Winzigkeiten gekommen ist, die wir noch sehen und deren wir uns so noch erinnern können, können keine schmächtigeren und winzigeren Vorstellungsbilder mehr in unseren Blick treten, obgleich der Verstand nicht aufhört, weiterzugehen und weiterzuteilen. So denken wir Körperliches nur, entweder soweit wir uns daran erinnern, oder auf Grund dessen, an das wir uns erinnern.
In Retractationes, l. II c. 15 bemerkt Augustinus, daß er dabei nicht an das vierfüßige Geflügel denkt, das Levit. 11, 20 erwähnt wird, weil bei ihm die zwei Hinterbeine nicht als vollwertige Beine zu rechnen sind. ↩
