15. Kapitel. Wenn die Seele jetzt auf Glückseligkeit hofft, dann erinnert sie sich nicht eines verborgenen Glückes, sondern Gottes und der Normen der Gerechtigkeit.
21. Wenn also der Geist sicher nicht daran zweifelt, daß er elend ist und selig zu sein sich sehnt, so kann er darauf, daß dies einmal geschehen könne, nur deshalb hoffen, weil er wandelbar ist. Denn wenn er nicht wandelbar wäre, so konnte er nicht, wie aus dem Glücke ins Elend, so aus dem Elend zum Glücke kommen. Und was anderes hätte ihn unter der Herrschaft seines allmächtigen und guten Herrn elend gemacht, als seine Sünde und die Gerechtigkeit seines Herrn? Und was anderes wird ihn selig machen als sein Verdienst und die Belohnung seines Herrn? Aber auch sein Verdienst ist Gnadengeschenk von jenem, dessen Belohnung seine Seligkeit sein wird. Die Gerechtigkeit, die er verlor und nicht mehr besitzt, kann er sich ja nicht selbst geben. Der Mensch empfing sie, als er geschaffen wurde; indem er jedoch sündigte, verlor er sie. Er empfängt S. 239 also die Gerechtigkeit, um derentwillen er verdient, die Seligkeit zu empfangen. Deshalb wird jenem, der auf seinen Besitz zu pochen beginnt, als stamme er von ihm, der Wahrheit gemäß gesagt: „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“1 Wenn er sich aber seines Herrn, da er seinen Geist empfangen hat, in der rechten Weise erinnert, dann merkt er durchaus — er lernt es durch innere Unterweisung —, daß er sich nur durch Gottes unverdiente Zuneigung wieder erheben könne, daß er nur durch seinen eigenen freiwilligen Abfall fallen konnte. Nicht freilich erinnert er sich seiner Seligkeit. Denn diese ist einmal gewesen und ist nicht mehr, und ihrer hat er gänzlich vergessen. Daher kann er an sie auch nicht mehr erinnert werden. Er glaubt aber hierüber den des Glaubens würdigen Schriften seines Gottes, die durch dessen Propheten verfaßt sind; sie erzählen von der Glückseligkeit des Paradieses und berichten jenes erste Heil und Unheil des Menschen mit geschichtlicher Treue. Des Herrn, seines Gottes aber erinnert er sich. Er ist ja immer, nicht ist er gewesen, so daß er jetzt nicht ist; nicht ist er jetzt, so daß er nicht gewesen ist, sondern wie er niemals nicht sein wird, so ist er auch niemals nicht gewesen. Und überall ist er ganz. So kommt es, daß er in ihm lebt, sich bewegt und ist,2 und deshalb kann er sich seiner erinnern. Nicht als ob er sich daran erinnerte, daß er ihn in Adam kennengelernt hatte oder sonst irgendwo vor dem Leben in diesem Leben oder bei seiner ursprünglichen Erschaffung, nach der er erst mit dem Leibe verbunden werden sollte. Er erinnert sich nämlich an gar nichts mehr von diesen Vorgängen. Jede Spur hiervon ist durch das Vergessen getilgt Aber daran wird er gemahnt, daß er sich zum Herrn wende, wie zu dem Lichte, von dem er auch, als er sich von ihm abwandte, in einer gewissen Weise berührt wurde.3 Denn S. 240 von ihm kommt es, daß auch die Gottlosen an die Ewigkeit denken und vieles an dem menschlichen Gehaben richtig tadeln und richtig loben. Nach welchen Regeln sollten sie denn darüber urteilen, es sei denn nach denen, in denen sie sehen, wie man leben sollte, auch wenn sie selbst nicht in dieser Weise leben? Wo sehen sie diese? Nicht in ihrer Natur, da man sie ohne Zweifel mit dem Geiste sieht, ihr Geist aber bekanntermaßen wandelbar ist, diese Regeln jedoch in ihrer Unwandelbarkeit sieht, wer immer auch dies an ihnen sehen kann, auch nicht im Gehaben des Geistes, da dies Regeln der Gerechtigkeit sind, die Geister aber bekanntermaßen ungerecht sind. Wo also sind diese Regeln geschrieben, wo erkennt auch der Ungerechte, was gerecht ist, wo sieht er, daß er haben müßte, was er nicht hat? Wo anders sind sie geschrieben als im Buche jenes Lichtes, das die Wahrheit heißt? Von dorther wird jedes gerechte Gesetz abgeschrieben und in das Herz des Menschen, der Gerechtigkeit wirkt, nicht indem er zu ihm hinwandert, sondern indem es sich ihm einprägt, hineingeschrieben, wie das Bild vom Ring auch in das Wachs eingeht und den Ring nicht verläßt. Wer hingegen nicht wirkt und doch sieht, was zu wirken ist, der ist es, der sich von diesem Lichte abwendet und doch von ihm berührt wird. Wer aber nicht einmal sieht, wie man leben müsse, der ist zwar in seiner Sünde entschuldbarer, weil er nicht ein Übertreter des erkannten Gesetzes ist, aber auch er wird manches Mal von dem Glänze der überall gegenwärtigen Wahrheit angerührt, wenn er auf eine Mahnung hin seine Sünden bekennt.