9. Kapitel. Nicht nur der Vater ist unsterblich und unsichtbar.
15. Jene Leute jedoch, welche diese Worte nicht vom Sohne und vom Heiligen Geiste, sondern nur vom Vater verstehen wollen, behaupten, der Sohn sei sichtbar nicht nur durch seine aus der Jungfrau angenommene menschliche Natur, sondern sei es auch schon vorher in sich selbst gewesen. Er ist ja, wie sie sagen, den Vätern erschienen. Wenn man ihnen entgegnet: Wie also der Sohn in sich selbst sichtbar ist, so muß er auch in sich sterblich sein, so daß für euch feststeht, daß man das Wort: „Der allein Unsterblichkeit besitzt“ nur vom Vater verstehen kann; wäre nämlich der Sohn sterblich nur wegen der Annahme der menschlichen Natur, dann müßtet ihr gelten lassen, daß er auch nur durch sie sichtbar ist; wenn man also so zu ihnen spricht, dann erwidern sie, daß sie den Sohn nicht wegen der menschlichen Natur sterblich nennen, sondern daß er es schon vorher gewesen sei, so wie er schon vorher sichtbar gewesen sei. Denn wenn sie nur der menschlichen Natur wegen den Sohn sterblich nennen, dann hat nicht mehr der Vater allein ohne den Sohn Unsterblichkeit, weil auch sein Wort, durch das alles geworden ist, Unsterblichkeit besitzt. Er hat ja nicht, weil er sterbliches Fleisch annahm, deshalb die Unsterblichkeit verloren, da ja nicht einmal der menschlichen Seele widerfahren kann, S. 74 daß sie mit dem Leibe stirbt. Der Herr sagt ja: „Fürchtet nicht die, welche den Leib töten, die Seele aber nicht töten können.“1 (Würden sie anders sagen,) dann müßten sie auch vom Heiligen Geiste behaupten, daß er Fleisch annahm. Wenn der Sohn nur wegen seiner menschlichen Natur sterblich wäre, dann würden sie zweifellos in Verlegenheit kommen bei der Erklärung, wie denn dann allein der Vater ohne den Sohn und Heiligen Geist Unsterblichkeit besitzen solle, da ja der Heilige Geist keine menschliche Natur annahm. Besitzt er die Unsterblichkeit nicht, dann ist der Sohn nicht nur wegen seiner menschlichen Natur sterblich. Besitzt aber der Heilige Geist Unsterblichkeit, dann gilt das Wort: „Der allein Unsterblichkeit besitzt“2 nicht allein vom Vater. Sie glauben daher die Sterblichkeit des Sohnes auch schon vor der Menschwerdung daraus erweisen zu können, daß die Wandelbarkeit selbst nicht unzutreffend Sterblichkeit genannt wird, sowie man auch von der menschlichen Seele sagt, sie sterbe, nicht weil sie in einen Körper oder in eine andere Substanz umgewandelt und umgebildet wird, sondern weil sie in eben ihrer Substanz verbleibend jetzt anders ist als vorher, und weil sie, sofern sie aufhört zu sein, was sie war, als sterblich erfunden wird. Weil also, sagen sie, der Sohn Gottes vor seiner Geburt aus der Jungfrau Maria unseren Vätern erschien, nicht nur in einer und derselben Gestalt, sondern in mannigfachen Formen, bald so, bald so, so ist er in sich selbst sichtbar, weil eben seine Substanz vor der Annahme der menschlichen Natur von sterblichen Augen gesehen werden konnte, und zugleich sterblich, weil wandelbar. Das gleiche gilt vom Heiligen Geiste, weil er das eine Mal als Taube, das andere Mal als Feuer erschien. Daher, so sagen sie, ist die Schriftstelle: „dem unsterblichen, unsichtbaren, alleinigen Gott“,3 und die andere: „der allein Unsterblichkeit besitzt und in einem unzugänglichen Lichte S. 75 wohnt, den kein Mensch gesehen hat und keiner sehen kann“,4 nicht von der ganzen Dreieinigkeit, sondern als besondere und eigentümliche Aussage nur vom Vater zu verstehen.
16. Diese Leute also will ich übergehen. Sie haben nicht einmal ein Verständnis für die unsichtbare Substanz der Seele. Daher sind sie weit entfernt vom Verständnis dafür, daß die Substanz des einen und alleinigen Gottes, das heißt des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes, nicht nur unsichtbar, sondern auch unwandelbar verharrt und daher in wahrer und echter Unsterblichkeit verbleibt. Wir, die wir lehren, daß Gott niemals, und zwar weder der Vater noch der Sohn noch der Heilige Geist, leiblichen Augen erschienen ist außer durch das Mittel eines seiner Macht unterworfenen körperlichen, geschaffenen Dinges, wir wollen in katholischem Frieden mit friedlichem Bemühen untersuchen, ob Gott unseren Vätern vor der Ankunft Christi im Fleische unterschiedslos erschien, oder ob eine von den drei Personen erschien, oder ob sie abwechslungsweise erschienen, bald die eine, bald die andere, bereit, uns verbessern zu lassen, wenn wir eine brüderliche und berechtigte Zurechtweisung erfahren, bereit auch, uns von einem Feinde beißen zu lassen, wenn er nur die Wahrheit sagt.