71. Die Schwachheit Christi — unsere Erziehung zum Glauben.
Wenn er also, um seinen Tod erkenntlich zu machen, sagt: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” und: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist”:1 hat er durch die Fürsorge für unser Bekenntnis sich eher als schwach bekannt, als uns nicht im Zweifel gelassen? Bedurfte er nämlich des Gebetes, als er kurz vor der Erweckung des Lazarus betete: „Vater, Dank sage ich dir, daß du mich erhört hast; und ich wußte, daß du mich immer erhörst, aber wegen der Menge habe ich gesprochen, damit sie glauben, daß du mich gesandt S. 228 hast”?2 Unseretwegen hat er also gebetet, damit seine Sohnschaft nicht unbekannt bliebe; und wenn auch das Wort seiner Bitte ihm nicht von Vorteil war, so sprach er dennoch zur Förderung unseres Glaubens.
Er war damals also nicht hilfsbedürftig, sondern wir bedürfen seiner Lehre. Er bittet auch um seine Verherrlichung; und bald vernimmt man vom Himmel her die Stimme Gott-Vaters, der verherrlicht. Aber bei dem Erstaunen über die vernommene Stimme spricht er: „Nicht meinetwegen kam jene Stimme, sondern euretwegen.”3 Für uns wird der Vater gebeten, für uns spricht er, das Ganze soll zur Erwirkung unseres Bekenntnisses geschehen. Und wenn die Antwort der (gewährten) Verherrlichung nicht dem Gebet um die Verherrlichung, sondern dem Nichtwissen der Zuhörer gewährt wurde: wie soll man da nicht erkennen, daß die Klage des Leides, in der höchsten Freude über das Erleiden, wegen der Erziehung unseres Bekenntnisses ausgesprochen wurde? Christus betet für die Verfolger, weil sie nicht wissen, was sie tun. Christus verspricht vom Kreuz herab das Paradies,4 weil er als Gott herrscht. Christus freut sich, mit dem Essigtrunk alles am Kreuze vollbracht zu haben,5 weil er durch seinen Tod das Prophetenwort erfüllt.
Für uns ist er geboren, für uns hat er gelitten, für uns ist er gestorben, für uns auferstanden. Da für uns allein dies eigentliches Mittel zum Heile ist, die Auferweckung des Gottessohnes von den Toten zu bekennen: warum, so frage ich, sollen wir in diesem Falschglauben sterben wollen, daß dies besonders ihm zur Abstreitung der Gottheit ausschlagen soll, daß uns gegenüber der Gottessohn sich als Menschensohn und auch seinen Tod bekannt hat, damals, als Christus innerhalb des Selbstbewußtseins um seine Göttlichkeit blieb und er seinen Tod dadurch erwiesen hat, daß er zum Erweis der Menschannahme mit Zuversicht starb?