Kap. 11. Ganz offen und ungescheut übt man diese Laster, und doch sucht man Gott und die Christen für die Strafe verantwortlich zu machen.
Und dennoch vermag dieser gewaltige Schrecken der Heimsuchungen nicht zu einem rechtschaffenen Leben zu erziehen, und inmitten des massenhaft dahinsterbenden Volkes bedenkt niemand, daß auch er sterblich ist. Allenthalben rennt, raubt und plündert man; beim Beutemachen kennt man keine Heimlichkeit, kein Zaudern. Wie wenn es erlaubt, wie wenn es ein Muß wäre, wie wenn jeder, der nicht raubt, den Schaden und Verlust am eigenen Leibe zu fühlen hätte, so beeilt sich alles, etwas zu erbeuten. Bei wirklichen Räubern ist immerhin noch einige Scheu vor dem Verbrechen zu finden, sie wählen mit Vorliebe abgelegene Hohlwege und verlassene Einöden, und der Frevel wird dort verübt in einer Weise, daß doch wenigstens die Untat des Verbrechers in Dunkel und Nacht gehüllt ist. Die Habsucht hingegen wütet ganz offen, und gerade durch die eigene Verwegenheit gesichert, läßt sie auf offenem Markte die Waffen ihrer zügellosen Begierde sehen. Daher die Fälscher, daher die Giftmischer, daher inmitten der Stadt die Meuchelmörder, die um so leichter geneigt sind zum Sündigen, als ihre Sünde ungestraft bleibt Von dem Schuldbefleckten wird das Verbrechen verübt und da findet sich kein Schuldloser, es zu ahnden. Vor einem S. 214 Ankläger oder Richter kennt man keine Furcht1 . Straflosigkeit genießen die Bösen, indem die Zurückhaltenden schweigen, die Mitschuldigen sich fürchten und die, welche richten sollten, sich bestechen lassen. Und deshalb wird durch den Mund des Propheten nach der Eingebung des göttlichen Geistes der wahre Sachverhalt dargelegt, deshalb wird klar und deutlich der Grund dafür gezeigt: der Herr könne nämlich die Drangsale wohl verhindern, aber die Schuld der Sünder sei die Ursache, daß er nicht zu Hilfe kommt. „Ist etwa„, sagt er, „die Hand des Herrn nicht stark genug, zu retten, oder hat er sein Ohr taub gemacht, daß er nicht höre? Nein, eure Sünden scheiden euch und Gott voneinander, und wegen eurer Vergehen wendet er sein Angesicht von euch, daß er sich nicht erbarme“2 . Die eigenen Sünden und Vergehen also möge man erwägen, die Wunden des Gewissens möge man bedenken, und jeder einzelne soll davon ablassen, über Gott oder über uns Klage zu führen, wenn er einsieht, daß er das verdient, was er zu leiden hat.