2. Schriftbeweise für die Lenkertätigkeit Gottes
Nun wollen wir sehen, ob der, der herniederschaut, auch regiert! Schließt ja doch schon die Tatsache des Schauens einen Grund zum Regieren in sich, weil er ja nicht deswegen herabsieht, um hinterher das Gesehene wieder zu vergessen; es ist doch klar, daß er schon deswegen nicht gleichgültig sein kann, weil er sich überhaupt würdigt herabzuschauen; besonders da ja die S. 75 oben angeführte Schriftstelle bezeugte, Gott sehe auf die Bösen zu ihrem Verderben, auf die Guten zum Heile. Schon dadurch wird also das Walten der göttlichen Regierung bewiesen; das heißt nämlich gerecht die Zügel der Regierung führen und die einzelnen Menschen je nach ihren Verdiensten verschieden behandeln. Aber höre doch noch ein weiteres Zeugnis hierüber. Im Psalm sagt der Heilige Geist zu Gott Vater: „Der du Israel regierst, merke auf!“ 1 Israel heißt: „Gott sehend". Nun sehen ihn aber auch die treugläubigen Christen im Glauben und im Gemüt. Und so heißt es, daß er, mag er auch der Lenker aller sein, ganz besonders jenen seine Führung zuteil werden lasse, welche die göttliche Leitung besonders verdienen. Daher mußt auch du, wer immer du sein magst, wenn du ein Christ bist, glauben, du werdest von Gott geführt. Willst du aber mit den anderen Christen gar nicht glauben, daß du von Gott regiert wirst, so mußt du dich als außerhalb der Christenheit stehend betrachten. Aber wenn du, wie schon oben gesagt, mehr das verlangst, was alle Menschen, nicht das, was nur die Christen angeht: siehe, die Heilige Schrift spricht klar aus, daß Tag für Tag alles nach dem Willen der Gottheit regiert und unaufhörlich von Gott gelenkt wird. „Er selbst nämlich", heißt es, „liebt Einsicht und Ordnung." 2 Und es gibt keinen anderen Gott, der sich um alles sorgte. „Denn da du gerecht bist", heißt es, „ordnest du alles in Gerechtigkeit und leitest uns mit großer Sorgfalt." 3 Hier siehst du, wie Gott unablässig ordnet, unablässig leitet. Aber an dieser Schriftstelle wird nicht nur von der göttlichen Leitung, sondern auch von der menschlichen Würdigkeit gesprochen. Wenn es nämlich heißt: „Du leitest uns", so wird damit auf die Macht der Regierung, wenn geschrieben steht, „mit großer Sorgfalt", so wird damit auf die hohe Würde des Menschen Bezug genommen. Und auch anderswo steht S. 76 beim Propheten: „Erfülle ich nicht Himmel und Erde?" 4 Warum er alles erfüllt, erklärt er selbst: „Ich bin bei euch, um euch zu beseligen." 5 Siehe, der Herr zeigt uns nicht nur seine Herrschaft, von der das All erfüllt ist, sondern auch die gewaltige Wohltat eben dieser Erfüllung. Denn die Frucht dieser Erfüllung mit der Gottheit ist, daß sie dem Angefüllten das Heil bringt. Deshalb sagt auch in der Apostelgeschichte der heilige Paulus: „In ihm leben wir und bewegen wir uns und sind wir." 6 Zweifellos ist der mehr als der Lenker des Lebens, in dem die Bewegung des Lebenden liegt. Der Apostel sagt nämlich nicht, wir werden von ihm bewegt, sondern wir bewegen uns in ihm; er wollte damit lehren, daß im Innern der göttlichen Kräfte unser ganzes Wesen wurzle, weil wir in der Tat in dem leben, aus dem wir gerade das herleiten, was wir sind. Aber auch der Heiland selbst sagt im Evangelium: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt." 7 Er sagt nicht nur, er sei bei uns, sondern er sei alle Tage bei uns. Und du, du undankbarer Mensch, du behauptest, daß der sich nicht um uns kümmere und nicht auf uns Rücksicht nehme, der ohne Aufhören bei uns ist? Was tut er denn bei uns? Ist er etwa dazu bei uns, daß er sich nicht um uns kümmere, daß er uns vernachlässige? Und wie paßt es zusammen, daß er, der den Frommen seine Gegenwart gewährt, um die Gottlosen sich nicht kümmert? „Siehe", sagt er, „ich bin bei euch bis ans Ende der Welt." Fürwahr, herrlich verstehen wir die Liebe Gottes, wenn wir ihn verleumden, er vernachlässige uns, da er von sich bezeugt, er wolle uns in Ewigkeit nicht verlassen. Er wollte uns dadurch zeigen, daß seine Liebe und sein Schutz uns nie verlassen, da schon seine Gegenwart uns nie fehle. Wir machen die Liebe Gottes zur Verachtung für uns, wir verwandeln die Zeugnisse seiner Liebe in Beweise des S. 77 Hasses. Wenn er sagt, er sei gegenwärtig, so wollen wir das mehr als ein Zeichen seines Hasses gelten lassen denn seiner Liebe. Denn hätte der Herr gesagt, er werde fern von uns sein, so könnten wir ihm, da er ja abwesend ist, weniger Nachlässigkeit vorwerfen. Es zeigt von tieferer Verachtung und heftigerer Ablehnung, uns immerdar zu vernachlässigen und trotzdem niemals von uns zu weichen. Und er muß noch größeren Haß gegen uns im Herzen tragen, wenn er nur zu dem Zwecke bei uns bleibt, um uns zwar nie seine Gegenwart zu entziehen, aber immer seine Liebe zu verweigern. Aber fern sei es, von dem gütigsten und barmherzigsten Gott zu glauben, er wolle immer bei uns sein, um uns offenbar gerade durch seine Anwesenheit um so größere Geringschätzung zu erzeigen! Fern sei es, diese Lästerung auszusprechen! Denn ich glaube, sogar im ganzen Menschengeschlecht gibt es keinen, der so schlecht wäre, daß er deswegen mit irgendeinem Mitmenschen beisammen sein wollte, weil er ihn nicht liebt, und seine Gegenwart nur dazu zu benützen wünschte, um ihn unmittelbar aus seinem Haß heraus um so mehr verachten zu können. So mag uns die menschliche Natur selbst lehren und überzeugen, ob wir nicht deshalb bei irgendeinem Menschen sein wollen, weil wir den lieben, dessen Gegenwart wir wünschen. Und eben, weil wir lieben, wünschen wir auch, daß unsere Gegenwart dem Geliebten nütze. Was wir nicht einmal einem schlechten Menschen absprechen können, sprechen wir Gott ab und machen Gott schlechter als den schlechtesten der Menschen, da er gesagt haben soll, er wolle deshalb bei uns sein, um uns gerade durch seine Gegenwart um so hochmütiger zu übersehen. Aber davon genug!