2. Die Christen sollen nicht über Unglück klagen, weil sie nicht einmal die wichtigsten Gebote Gottes befolgen
Du fragst also vorwurfsvoll, was das bedeute, daß wir Christen, die wir an Gott glauben, unglücklicher als alle sind. Als Antwort könnte mir hier das Apostelwort an die Gemeinden dienen: „Niemand lasse sich in Trübsalen beunruhigen; denn ihr selbst wißt, daß wir dazu bestimmt sind!„ 1 Wenn nun der Apostel sagt, wir seien von Gott dazu bestimmt, Leiden, Unglück, Traurigkeit zu ertragen, was Wunder, wenn wir alle Übel ertragen müssen, die wir doch zur Erduldung jeglicher Widerwärtigkeit im Kampfe stehen? Aber weil viele das nicht wissen und meinen, die Christen dürften als Lohn für ihren Glauben von Gott verlangen, daß sie, weil sie frommer sind als alle Völker, auch stärker seien als alle, darum wollen wir uns bei ihrer Meinung und Ansicht etwas aufhalten. Doch laßt uns sehen, was es heißt, treu an Gott glauben! Denn da wir auf dieser Welt einen so großen Lohn für unsern Glauben und unsere Treue S. 89 beanspruchen, müssen wir betrachten, von welcher Art unser Glaube und unsere Treue sein müssen. Was ist also Glauben und Treue? Ich meine, treu an Christus glauben, was gleichbedeutend ist mit: Gott treu sein, das heißt, Gottes Gebote treu beobachten. Wie nämlich die Diener reicher Leute oder die Verwalter, denen prachtvolles Hausgerät oder reich gefüllte Vorratskammern anvertraut werden, zweifellos nicht treu genannt werden können, wenn sie das ihnen anvertraute Gut verschleudern, genau so sind die Christen untreu, wenn sie die von Gott ihnen zugewiesenen Güter zugrunde richten. Nun erhebt sich freilich die Frage, welches die Güter sind, die Gott den Christen zuteilt. Was anders als alles, wodurch wir glauben, das heißt alles, wodurch wir Christen sind? Zuerst natürlich das Gesetz, dann die Propheten, drittens das Evangelium, viertens die apostolischen Schriften, zuletzt das Geschenk der neuen Wiedergeburt, die Gnade der heiligen Taufe, die Salbung mit göttlichem Chrisam: denn wie einst bei den Hebräern, dem als Gottes Eigentum auserwählten Volk, nachdem die Richterwürde in die Königsgewalt übergegangen war, Gott die bewährtesten und auserlesensten Männer durch die Königssalbung zur Herrschaft berief, so wären auch alle Christen, wenn sie nach Empfang der kirchlichen Salbung alle Gebote Gottes gehalten hätten, für den Himmel berufen, um den Lohn für ihre Mühen zu empfangen. Auf allen diesen Dingen nun beruht der Glaube. Laßt uns also sehen, wer diese Glaubensgeheimnisse bewahrt, so daß er als gläubig angesehen werden kann; denn der ist notwendiger Weise ungläubig, wie wir gesagt haben, der das Glaubensgut nicht bewahrt. Ich verlange nun nicht, daß er alles tue, was die Testamente beider Zeiten befehlen. Ich verzichte auf die Strenge des alten Gesetzes, ich verzichte auf die Drohungen der Propheten, ich verzichte auch auf das, worauf keineswegs verzichtet werden kann, auf die strengen Vorschriften der apostolischen Bücher oder auf S. 90 die Lehre der Evangelien, überreich an jeglicher Vollkommenheit. Nur an ganz wenige Gebote denke ich und frage, wer sie befolgt. Ich nenne nicht die Gebote, vor denen viele so sehr zurückscheuen, daß sie dieselben beinahe verwünschen. Wahrlich, so sehr nimmt bei uns die Ehrfurcht und die Scheu vor Gott zu, daß wir das für hassenswert halten, was wir aus unfrommer Gesinnung nicht tun! Wer will noch hören, daß der Heiland uns verbietet, in Sorge an den morgigen Tag zu denken? 2 Wer nimmt sein Gebot an, mit einem Rock zufrieden zu sein? Daß er uns vorschreibt, ohne Schuhe zu gehen, wer glaubt es noch tun zu müssen? Nein, wer findet das überhaupt noch erträglich? Deshalb übergehe ich das. So weit ist unser Glaube, worauf unser Vertrauen beruht, zurückgegangen, daß wir für überflüssig halten, was der Herr uns zum Heile gereichen lassen wollte. „Liebet“, sagt der Heiland, „eure Feinde, tuet Gutes denen, die euch hassen, und betet für euere Verfolger und Verleumder.„ 3 Wer tut das alles? Wer läßt sich herbei, für seine Feinde das, was Gott befohlen hat, ich sage nicht einmal in seinen Wünschen, sondern wenigstens seinen Worten nach zu tun? Wenn sich aber einer zwingt, dies zu tun, tut er es mit dem Munde, nicht mit dem Herzen. Er leistet zwar den Dienst in Worten, aber die Gesinnung des Herzens ändert er nicht. Und wenn sich deshalb einer soweit beherrscht, daß er für seinen Gegner betet, so redet er nur, er bittet nicht. Es wäre zu lange, über jedes einzelne zu reden. Aber etwas will ich doch noch hinzufügen, damit wir einsehen, wie wir nicht nur nicht allen seinen Worten folgen, sondern kaum irgendeinem seiner Gebote gehorchen. Und deshalb ruft der Apostel aus: „Wer da glaubt, er sei etwas, da er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.“ 4 Denn das fügen wir unsern Vergehen noch hinzu, daß wir uns noch für gut und heilig halten, während wir doch in allen Dingen voll Schuld sind; und so werden die Sünden S. 91 unserer Ungerechtigkeit noch gehäuft durch die Anmaßung, gerecht zu sein. „Wer seinen Bruder haßt„, sagt der Apostel, "der ist ein Mörder.“ 5 Wir können also erkennen, daß viele Mörder sind, die sich für unschuldig halten, weil, wie wir sehen, ein Mord nicht nur durch die Hand eines Totschlägers, sondern auch durch die Gesinnung eines Hassers vollzogen wird. Daher kommt es auch, daß der Heiland die Gesetzesvorschrift durch eine noch strengere Strafe verschärft, indem er sagt: "Wer seinem Bruder ohne Grund zürnt, ist des Gerichtes schuldig.„ 6 Der Zorn ist der Vater des Hasses. Und deshalb wollte der Heiland den Zorn unmöglich machen, damit nicht aus ihm der Haß entstehe. Wenn also nicht nur der Haß, sondern auch der Zorn uns vor dem Gericht Gottes zu Schuldigen macht, so erkennen wir daraus klar, daß, wie überhaupt keiner frei sein kann von Zorn, so überhaupt keiner frei sein kann von Schuld. Gott geht aber dem Sinn dieses Gesetzes sozusagen bis in die letzte Faser nach und schneidet den letzten Ast, das letzte Zweiglein ab, indem er spricht: „Wer aber sagt: Narr, wird des höllischen Feuers schuldig sein. Wer zu seinem Bruder sagt: Rakka, wird des Hohen Rates schuldig sein.“ 7 Was für eine Art Schmähung Rakka ist, wissen viele nicht; sie wissen aber sehr gut, wie schmachvoll es ist, einem Narrheit vorzuwerfen. So machen die Menschen eher von ihrem Wissen als von ihrer Unwissenheit Gebrauch; sie wollen lieber, daß ihre Schuld wegen der ihnen bewußten Schmähung im göttlichen Feuer gesühnt wird, als daß sie wegen der unbewußten Beschimpfung vor dem Rat menschlicher Richter abgeurteilt werden.