10. Vornehme wie Niedrige frönen den gleichen Lastern
Nun glauben aber einige, daß für diese Verbrechen und schimpflichen Laster, von denen ich gesprochen habe, nur die Sklaven und die verworfensten Menschen in Betracht kämen, daß aber der Name der Freigeborenen nicht mit solchen Schandflecken besudelt sei. Aber was ist das Leben aller Geschäftsleute anderes als Betrug und Meineid, was anderes das der Hofleute als Ungerechtigkeit, das der Beamten als Verleumdung, was anderes ist das Leben aller Soldaten als Raub? Aber du glaubst vielleicht, das könne man bei solchen Leuten schon ertragen. So nämlich, meinst du, sind ihre Taten wie auch ihr Beruf, und deswegen braucht man sich nicht zu wundern, wenn sie ihrem Beruf gemäß handeln. Als ob Gott wollte, daß irgendeiner Schlechtes tue oder einen üblen Beruf habe und als ob es gar keine Beleidigung der göttlichen Majestät wäre, wenn man sieht, wie die niedrigeren Menschen die größten Verbrechen begehen, besonders da die ungeheure Menge dieser Leute den weitaus größten Teil des Menschengeschlechtes ausmacht. Und zweifellos: die Beleidigung der Gottheit ist dort größer, wo die Zahl der Sünder größer ist. Aber jeglicher Adel, sagst du, ist frei von diesen Lastern, Aber das ist zu wenig, weil der Adel in der ganzen Welt nicht mehr bedeutet als ein Mensch in einem gro- S. 106 ßen Volk. Aber wir wollen doch sehen, ob dieser, wenn auch kleine Teil, frei von Schuld ist. Doch zuerst laßt uns betrachten, was die Heilige Schrift von solchen Leuten sagt: „Höret, meine geliebtesten Brüder (so klagt der Apostel das Volk Gottes an), hat nicht Gott die Armen in dieser Welt auserkoren zu Reichen im Glauben und zu Erben des Reiches, welches Gott denen verheißen hat, die ihn lieben? Ihr aber habt verunehrt den Armen. Sind es nicht die Reichen, welche euch vergewaltigen? Lästern nicht sie den schönen Namen, nach welchem ihr genannt werdet?„ 1Das ist ein wichtiger Ausspruch des Apostels, wenn nicht etwa die Vornehmen glauben, sie seien davon nicht betroffen, weil nur von den Reichen die Rede ist. Aber entweder sind die Adeligen die gleichen wie die Reichen oder, wenn es außer den Adeligen noch Reiche gibt, sind auch die gewissermaßen adelig; denn so elend ist es um unsere Zeit bestellt, daß nur der Allerreichste für ganz vornehm gehalten wird. Aber die Streitfrage, ob der Apostel von einem von beiden oder von beiden gesprochen hat, kann leicht beigelegt werden. Denn es macht nichts aus, von welchem Teil hauptsächlich die Rede ist, weil der Ausspruch sicher auf beide paßt. Wer von den Adeligen oder von den Reichen fürchtet sich überhaupt noch vor dem Laster? Doch, da habe ich Falsches gesagt: Viele fürchten sich zwar davor, aber sehr wenige meiden es. An anderen verabscheuen sie, was sie sich selber immer gestatten, und erheben sonderbarerweise wegen derselben Verbrechen Klage, die sie selbst verüben. In der Öffentlichkeit verfluchen sie, was sie im Verborgenen tun; und deswegen verurteilen sie mehr sich selbst durch ihr eigenes Verdikt, während sie andern das Urteil zu sprechen meinen. Aber lassen wir diese größeren Sünder beiseite! Gibt es überhaupt einen Reichen oder Adeligen, der die Unschuld bewahrt oder seine S. 107 Hände von allen Verbrechen ferne hält? Überflüssigerweise sage ich: „von allen“. Hielten sie sich wenigstens von den größten fern! Denn kleinere Sünden zu begehen, das beanspruchen die Vornehmeren ja ohnehin als ein Privileg, das ihnen von Rechts wegen zukommt. Deshalb rede ich von den leichteren Fehlern gar nicht. Sehen wir doch zu, ob von jenen zwei Hauptlastern irgendeiner frei ist, von Mord und Unzucht! Denn wer ist noch nicht befleckt mit Menschenblut oder wer rein vom Schmutz der Unzucht? Eines von diesen beiden genügt zur ewigen Strafe, aber beinahe jeder Reiche hat beides sich zuschulden kommen lassen.
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Jak. 2, 5 f. ↩