14. Unsere Sünden sind die gleichen wie die der Barbaren
Lassen wir also das Vorrecht des Gesetzes, das uns entweder nichts nützt oder höchstens zu gerechter Strafe verurteilt, beiseite und vergleichen wir das Leben der Barbaren mit unseren Bestrebungen und Sitten und Lastern! Ungerecht sind die Barbaren, und wir sind es auch; habsüchtig sind die Barbaren, und wir sind es auch; treulos sind die Barbaren, und wir sind es auch; lüstern sind die Barbaren, und wir sind es auch; schamlos sind die Barbaren, und wir sind es auch; voll von Ruchlosigkeiten und Lastern sind die Barbaren, und wir sind es auch. Aber vielleicht kann mir entgegengehalten werden: wenn wir den Barbaren an Lasterhaftigkeit gleich sind, warum sind wir ihnen nicht an Macht gleich? Wenn die Ruchlosigkeit ähnlich ist und die Schuld die gleiche, müßten wir da nicht so stark sein wie diese, oder müßten nicht wenigstens sie so schwach sein wie wir? Das ist wahr; und daraus ergibt sich nur der eine Schluß, daß diejenigen auch die Schuldigeren sind, die die Schwächeren sind. Wie beweisen wir das? Einfach mit dem Hinweis, den wir oben gemacht haben, daß Gott alles nach seinem Urteil tue. Wenn nämlich, wie geschrieben steht, die Augen des Herrn an jedem Ort auf Gute und Böse schauen 1und nach dem Apostel das Urteil Gottes sich der Wahrheit gemäß über alle Gottlosen vollzieht, 2so sehen wir, daß wir, die wir nicht aufhören, Böses zu tun, nach dem Urteil des gerechten Gottes die Strafe für unsere Bos- S. 138 heit aushalten. Aber, so entgegnest du, die Barbaren begehen die gleichen Sünden, und dennoch sind sie nicht so unglücklich wie wir. Das ist aber der Unterschied: Wenn die Barbaren das gleiche tun wie wir, so liegt doch in unserer Sünde eine größere Beleidigung. Es können nämlich unsere und der Barbaren Laster gleich sein, aber die Sünden bei diesen Lastern sind für uns notwendigerweise schwerer. Denn alle Barbaren sind entweder Heiden oder Ketzer, wie schon oben gesagt. Von den Heiden will ich zuerst sprechen, weil ihr Irrtum älter ist. Der Stamm der Sachsen ist wild, die Franken sind treulos, die Gepiden unmenschlich, die Hunnen unzüchtig. Das Leben all dieser heidnischen Barbaren ist Lasterhaftigkeit. Aber haben ihre Laster das gleiche Gewicht wie die unsrigen? Ist die Unzüchtigkeit der Hunnen so verbrecherisch wie die unsere? Ist die Treulosigkeit der Franken so strafbar wie die unsrige? Verdient die Trunkenheit eines Alemannen soviel Tadel wie die eines Christen? Oder ist die Raubgier eines Alanen so verdammenswert wie die eines Christen? Wenn ein Hunne oder ein Gepide betrügt, was ist daran sonderbar, da er das eigentlich Schuldhafte an der Falschheit gar nicht kennt? Wenn ein Franke einen Meineid schwört, was tut er da Merkwürdiges, da er doch den Meineid als eine bloße Redensart, nicht als ein Verbrechen ansieht? Und ist es sonderbar, daß die Barbaren dies glauben, da sie doch Gott und sein Gesetz nicht kennen, wenn fast der größte Teil des römischen Volkes so glaubt, obwohl er weiß, daß er sündigt? Um von anderen Menschenklassen zu schweigen, betrachten wir nur die Scharen der syrischen Händler, 3 die fast den größten Teil aller Städte in Besitz genommen haben: Ist ihr Leben S. 139 etwas anderes als ein Sinnen auf List und ein ständiges Lügendreschen? Oder halten sie nicht die Worte für völlig verloren, die sie nicht zu ihrem Vorteil sprechen können? Soviel Ehre erweisen sie Gott, der den Eid verbietet, daß sie jeden Falscheid als ganz hervorragenden Nutzen betrachten. Was ist also merkwürdig daran, wenn die Barbaren betrügen, da sie das Verbrecherische des Betruges nicht kennen? Sie tun nämlich nichts in Verachtung der göttlichen Vorschriften, da sie die Vorschriften Gottes gar nicht kennen, weil man gegen ein Gesetz, das man nicht kennt, nicht sündigen kann. Unsere ganz besondere Schuld ist das, daß wir zwar das göttliche Gesetz lesen, aber das geschriebene Gesetz immer verletzen; daß wir sagen, wir kennen Gott, aber seine Befehle und Vorschriften immer mit Füßen treten. Und da wir so ihn verachten, während wir glauben und uns rühmen, ihn zu verehren, ist sogar das, was als Gottesverehrung erscheint, ein Unrecht.