16. Nicht die Heiden, sondern die Christen lästern Gott
Hier frage ich nun alle, die noch bei gesundem Menschenverstand sind: Wer hätte je geglaubt, daß menschliche Leidenschaft und Anmaßung bis zu solcher Schmähung Gottes sich versteigen werde, daß sie sogar ein Unrecht gegen Christus in Christi Namen zu tun vorgeben? Ein unglaubliches, schauderhaftes Treiben! Woran wagt sich nicht eine ruchlose Gesinnung! Man bewaffnet sich mit dem Namen Gottes, um zu rauben; man macht Gott sozusagen zum Urheber seines Frevels; und obwohl Christus alles Böse verwehrt und bestraft, so behauptet man doch, sein Verbrechen für Christus zu begehen. Wir beklagen uns über das Unrecht der Feinde und wir legen den Falscheid der heidnischen Barbarei zur Last. Wieviel geringer ist die Sünde, wenn jene bei den Dämonen falsch schwören, als wenn wir dies bei Gott tun! Und wieviel unbedeutender ist das Verbrechen, den Namen Jupiters zu verspotten als den Christi! Dort ist es ein toter Mensch, 1bei dem man schwört; hier der lebendige Gott, bei dem man falsch schwört; dort ist es nicht einmal ein Mensch, hier der höchste Gott. Da hier der Eid bei Gott von heiligster Bedeutung ist, muß der Meineid notwendiger Weise ein sehr großes Verbrechen sein; da dort so gut wie kein Eid geleistet wird, ist es klar, daß auch kein Meineid geleistet wird; denn da es Gott nicht S. 142 ist, bei dem geschworen wird, ist es kein Meineid, wenn man falsch schwört. Wer endlich wissen will, wie wahr das ist, der höre, wie der heilige Apostel Paulus gerade das, was wir sagen, verkündigt; er sagt nämlich so: „Wir wissen aber, daß das Gesetz alles, was es sagt, denen sagt, die unter dem Gesetz sind." 2Und nochmals sagt er: „Wo kein Gesetz, da ist auch keine Übertretung.“ 3In diesen beiden Sätzen unterscheidet er ganz klar zwei Teile des Menschengeschlechtes: solche, die außerhalb des Gesetzes sind, und solche, die unter dem Gesetz leben. Welche sind nun die unter dem Gesetz Stehenden? Wer anders als die Christen? So sagt ja der Apostel selbst von sich: „Ohne Gesetz Gottes bin ich nicht, sondern unter dem Gesetz Christi lebe ich." 4. Wer ist daher ohne Christi Gesetz? Wer anders als die Heiden, die das Gesetz des Herrn nicht kennen? Und daher sagt er von diesen: „Wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung." Dadurch allein zeigt er, daß nur die Christen Übertreter des Gesetzes sind, wenn sie sündigen; die Heiden aber, die das Gesetz nicht kennen, ohne Gesetzesübertretung sündigen, weil niemand ein Gebot übertreten kann, das er nicht kennt. Nur wir sind daher Übertreter des göttlichen Gesetzes, die wir, wie geschrieben steht, das Gesetz lesen und es nicht halten; und deshalb ist unser Wissen nichts anderes als Schuld, da wir das Gesetz nur dazu kennen, um mit größerer Verfehlung zu sündigen. Denn was wir durch die Schriftlesung in unserm Innern erkannt haben, treten wir in unsern Lüsten verächtlich mit Füßen. Und darum ist mit Recht das folgende Apostelwort an alle Christen gerichtet: „Du, der du dich des Gesetzes rühmst, entehrst Gott durch Übertretung des Gesetzes. Denn der Name Gottes wird durch euch unter den Heiden verlästert." 5Welches Vergehens die Christen schuldig sind, kann aus dieser einen Äußerung erkannt werden: sie S. 143 lästern den Namen Gottes. Und obwohl uns durch die Schrift auferlegt ist, alles zur Ehre Gottes zu tun, 6tun wir im Gegenteil alles zu seiner Schmach, Und obwohl unser Heiland uns täglich zuruft: „So laßt euer Licht vor den Menschen leuchten, damit die Menschenkinder euere guten Werke sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist“, 7leben wir im Gegenteil so, daß die Kinder der Menschen unsere bösen Werke sehen und unsern Vater lästern, der im Himmel ist.
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„Ein toter Mensch." Hier huldigt Salvian dem Euhemerismus, so benannt nach dem griechischen Philosophen Euhemerus (um 300 v. Chr.), der lehrt, die Götter seien nichts anderes als hervorragend gute Menschen, die vergöttlicht worden seien. Eine Reihe von Kirchenvätern und Geschichtsphilosophen des Mittelalters bekämpfen mit Hilfe des Euh. den Polytheismus. ↩
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Röm 3,19 ↩
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Ebd. 4,15 ↩
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1 Kor. 9, 21. Jedoch nicht wörtlich zitiert ↩
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Röm. 2, 23 f. ↩
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1 Kor. 10, 31 ↩
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Matth. 5, 16. ↩