19. Die Christen haben gegen das Gesetz größere Verpflichtungen als die Heiden, weil sie das Gesetz kennen, die Heiden aber nicht
Das aber ist, wie gesagt, ein besonders schweres Laster der Christen, daß nur ihretwegen Gott gelästert wird, um S. 147 ihretwillen, die Gutes lernen und Böses tun, die, wie geschrieben steht, 1 Gott in Worten bekennen und durch die Tat verleugnen, die, wie eben der Apostel sagt, im Gesetz ruhen und seinen Willen kennen und das Bessere billigen, die das Urbild des Wissens und der Wahrheit im Gesetze haben, die verkünden, man dürfe nicht stehlen, und doch stehlen, die lesen, man dürfe nicht ehebrechen, und die doch ehebrechen, die sich im Gesetz rühmen und durch Übertretung des Gesetzes Gott entehren. Und gerade deswegen sind die Christen schlechter, weil sie besser sein müßten. Sie stehen nicht ein für das, was sie bekennen, und bekämpfen ihr Bekenntnis durch ihre Sitten: Verdammenswürdiger nämlich ist die Bosheit, für die der Name der Rechtschaffenheit zum Ankläger wird; und ein frommer Name ist eine schwere Belastung für einen Frommen. Daher sagt auch der Heiland in der Apokalypse zu dem lauen Christen: „O daß du warm wärest oder kalt! Weil du aber lau bist, will ich anfangen, dich auszuspeien aus meinem Munde." 2Jedem Christen befiehlt der Herr, von Glaubensgeist zu erglühen. So nämlich steht geschrieben: „Seien wir im Geiste glühend, dienend dem Herrn!" 3 In dieser Glut des Geistes zeigt sich nämlich der Eifer religiösen Glaubens. Wer am meisten von diesem Eifer hat, erweist sich als glühend im Glauben; wer überhaupt nichts davon hat, der gibt sich als kalt und heidnisch zu erkennen; wer aber zwischen beiden steht, das heißt gar nichts ist, ist für den Herrn ein lauer und verhaßter Christ, und deshalb sagt er zu ihm: „O daß du warm wärest oder kalt! Nun aber, da du lau bist, will ich anfangen, dich auszuspeien aus meinem Munde." Damit will er sagen, wenn du die Wärme und Treue der guten Christen hättest oder doch die Kälte und Unwissenheit der Heiden; entweder würde dein warmer Glaube dich dem Herzen Gottes nahe bringen, oder es würde doch für jetzt die Unkenntnis des Gesetzes dich einigermaßen entschul- S. 148 digen; nun aber, da du Christus schon anerkannt hast und den vernachlässigst, den du anerkannt hast, wirst du, der du sozusagen durch die Kenntnis des Glaubens in den Mund Gottes aufgenommen worden bist, wegen deiner Lauheit wieder ausgeworfen. Das legt auch der heilige Apostel Petrus ganz klar auseinander, indem er von den Lasterhaften und Lauen, das heißt, den Christen, die ein schlechtes Leben führen, sagt: „Besser wäre es für sie, die Wahrheit nicht zu kennen, als nach gewonnener Erkenntnis von dem gegebenen Gebote wieder abzuweichen. Ihnen geht es, wie es in einem wahren Sprichwort heißt: Der Hund kehrt zurück zu seinem Auswurf, und das Schwein badet sich immer wieder im schmutzigen Morast." 4 Damit wir nun deutlich erkennen, dies gelte von jenen, die mit dem Christennamen in Schmutz und Unreinheit der Welt leben, so höre, was an derselben Stelle von diesen geschrieben steht: „Wenn sie der Befleckung der Welt durch die Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus entronnen sind und dann sich wieder verlocken und überwinden lassen, werden die letzten Dinge schlimmer sein als die ersten." 5 Ebenso drückt sich der heilige Apostel Paulus aus: „Die Beschneidung nützt zwar, wenn du das Gesetz beobachtest; übertrittst du aber das Gesetz, so ist deine Beschneidung Vorhaut geworden." 6 Daß aber unter der Beschneidung das Christentum zu verstehen sei, lehrt er selbst ganz klar, indem er sagt: „Beschneidung sind S. 149 wir, wenn wir im Geiste Gott dienen und nicht auf das Fleisch vertrauen." 7 Und daraus ersehen wir, daß er die schlechten Christen mit den Heiden vergleicht, und nicht nur vergleicht, sondern sie ihnen fast nachsetzt, indem er sagt: "Wenn also der Unbeschnittene die Satzungen des Gesetzes beobachtet, wird nicht seine Vorhaut für Beschneidung gerechnet werden? Und wird die Vorhaut von Natur, die das Gesetz erfüllt, nicht dich verdammen, der du trotz Buchstaben und Beschneidung Übertreter des Gesetzes bist?" 8 Daraus erkennen wir, wie schon oben gesagt, daß wir um vieles schuldbarer sind, die wir Gottes Gesetz haben und es verachten, als die, die es überhaupt nicht haben noch kennen. Denn niemand verachtet, was er nicht kennt. "Die Begierde", sagt der Apostel, „kannte ich nicht, wenn nicht das Gesetz vorschriebe: du sollst nicht begehren!" 9 Denn die fallen nicht vom Gesetz ab, die keines haben, weil - so steht geschrieben - es keine Übertretung gibt, wo kein Gesetz ist." 10 Und wenn deswegen die nicht vom Gesetz abfallen, die keines haben, verachten sie auch keine Gesetzesvorschriften, weil sie keine haben, weil, wie gesagt, niemand verachten kann, was er nicht kennt. Wir aber sind Verächter ebenso gut wie Übertreter und deswegen schlimmer als die Heiden, weil jene die Gebote Gottes nicht kennen, wir aber sie kennen; jene haben sie nicht, wir haben sie; jene unterlassen, was sie nie gehört; wir treten mit Füßen, was wir gelesen. Und so ist bei ihnen die Unwissenheit, bei uns die Übertretung. Denn es ist ein geringeres Vergehen, das Gesetz nicht zu kennen, als es zu verachten.
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Tit. 1, 16; Röm. 2, 17. ↩
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Offenb. 3, 15 f ↩
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Röm. 12, 11. ↩
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2. Petr, 2, 21 f. Salvian hat: melius erat illis non cognoscere veritatem quam cognoscentibus retrorsum reflecti a trabito sibi mandato. Contigit illis res veri proverbii: canis reversus ad suum vomitum aut sus lota in volutabro caeni. Die Vulg. hat: melius enim erat illis non cognoscere viam iustitiae, quam post agnitionem retrorsum converti ab eo, quod illis traditum est, sancto mandato. Contigit enim eis illud veri proverbu: canis reversus ad suum vomitum et sus lota in volutabro luti. ↩
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2. Petr. 2, 20. Auch hier weicht Salvians Text von dem der Vulg. ab. ↩
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Röm. 2, 25. ↩
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Phil. 3, 3. ↩
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Röm. 2, 26 f. ↩
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Ebd. 7, 7. ↩
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Ebd. 4, 15. ↩