1. Die gegenwärtige Kirche leidet unter der Habsucht ihrer Kinder
S. 267 Timotheus, der geringste der Knechte Gottes, an die über den ganzen Erdkreis verbreitete katholische Kirche! Gnade und Friede sei dir von Gott, unserem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn, mit dem Hl. Geiste! Amen.
Unter den mannigfachen schweren, tod- und verderbenbringenden Krankheiten, die dir jene alte, häßliche Schlange in erbittertstem Neid und tödlicher Eifersucht, mit dem furchtbaren Hauch ihres giftigen Rachens einflößt, gibt es wohl keine, die unter deinen Gläubigen ärgeres Unheil und unter deinen Kindern schrecklicheres Siechtum anrichtet als diese eine: Sehr viele der Deinen erachten es nicht für genug, daß sie in diesem Leben den ihnen von Gott zu heiligem Dienst übergebenen Gütern anhängen, ohne daß die Barmherzigkeit und die Nächstenliebe Gewinn davon hätten, nein, sie dehnen ihre Habsucht - und sie ist ein knechtischer Götzendienst! - auch in die Zukunft, in die Zeit nach dem Tode aus. Vielleicht blickst und spähst du nun fragend um dich, wo diejenigen von deinen Gläubigen denn seien, die ich da meine. Du brauchst nicht lange zu suchen, um sie zu finden. Alle, ja, so sag' ich, fast alle sind von meinem Vorwurf betroffen! Verschwunden und längst vorbei ist S. 268 ja jene herrliche, alles überragende, beseligende Kraft der Frühzeit deines Volkes, da alle, die sich zu Christus bekannten, den vergänglichen Besitz an irdischem Vermögen verwandelten in die ewigen Werte himmlischer Güter; sie beraubten sich der Nutznießung am Gegenwärtigen im herrlichen Ausblick auf das Zukünftige; sie erkauften unsterblichen Reichtum um einen Augenblick der Armut, Und jetzt? Jetzt ist auf all dies gefolgt Habsucht, Begehrlichkeit, Raubgier und - in enger Bundesgenossenschaft und beinahe leiblicher Schwesternschaft mit ihnen vereint - Neid und Haß und Grausamkeit, Verschwendung und Schamlosigkeit und Verworfenheit: jene ersteren streiten ja doch mit den Machtmitteln der letzteren! Und so hat vielleicht dein äußeres Glück gegen dich selbst gekämpft: je stärker sich deine Anhänger mehrten, desto mehr wuchsen auch die Laster; je mehr deine Macht zunahm, desto mehr nahm die Zucht ab, und deine wirtschaftliche Blüte kam in Begleitung innerer Verluste. Denn als sich die Masse der Gläubigen vervielfachte, ward der Glaube selbst verringert, und mit dem Wachstum ihrer Kinder wird die Mutter krank; und so bist du, o Kirche, durch deine gesteigerte Fruchtbarkeit schwächer geworden, bist durch die Mehrung zurückgesunken und hast an Kräften abgenommen. Gewiß: du hast über die ganze Welt hin die Glieder ausgesandt, die zwar dem Namen nach den Glauben haben, aber keine Glaubenskraft; und so begannst du reich zu werden an Scharen, arm am Glauben; und wurdest zwar der Menge nach bereichert, verarmtest aber an Frömmigkeit, wurdest weiter dem Leibe nach, aber verkümmertest am Geiste, bist, möchte ich sagen, zu gleicher Zeit in dir größer und in dir kleiner geworden - eine fast nie dagewesene, unerhörte Art von Fortschritt und Rückschritt in einem, indem du zugleich zunahmst und abnahmst. Denn wo ist jetzt deine ehemalige wundervolle Gestalt, die Schönheit deines ganzen Leibes? Wo gilt noch jenes Zeugnis der Heiligen Schrift, das da von S. 269 deinen lebendigen Tugenden rühmt: „Die große Zahl der Gläubigen war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte von dem, was er besaß, noch etwas sein„ 1? Von diesem Zeugnis - Gott sei es laut geklagt! - besitzest du nur mehr die geschriebenen Worte, nicht mehr die innere Kraft; nur mehr durch dein Wissen stehst du ihm nahe, im Gewissen stehst du ihm fern. Sind doch heute deine Kinder zum größten Teil Händler mit todbringender Ware, irdischen - nein! - teuflischen Krämern und Schankwirten gleich, und schachern mit Dingen, die selbst zugrunde gehen und andere zugrunde richten. Um Geldgewinn kaufen sie den Schaden am ewigen Leben; um fremdes Gut zu erwerben, verschwenden sie das eigene; der Erde überliefern sie ihre traurigen Schätze, die den Erben eine kurze Freude, den Stiftern einen langen Schmerz bringen werden; sie betrügen sich und andere um den wahren Nutzen dieses Daseins, wenn sie in tiefen Gruben ihren höllischen Reichtum bergen; graben sie doch so mit einem Mal ihr Geld und ihre Hoffnung ein nach jenem Wort unseres Herrn, das da sagt: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“ 2So sind sie neidisch auf ihr eigenes Heil und drücken die eigenen Seelen, die doch zum Himmel berufen sind, mit schweren irdischen Gewichten wieder zur Erde nieder. Der Sinn dessen nämlich, der sich einen Schatz errafft, folgt dem Schatze nach und wird gleichsam zur Natur eines irdischen Stoffes herabgemindert, jetzt sowohl wie in der Zukunft und immerdar. Denn da, wie geschrieben steht, dem Menschen gleichermaßen Leben und Tod zur Wahl vorliegen und er nur die Hand nach dem auszustrecken braucht, was er will, ist die notwendige Folge, daß jeder einzelne Mensch in der Ewigkeit das besitzt, was er hier auf Erden gewissermaßen mit eigener Hand an sich genommen hat, und daß er, getreu seiner Wahl und seinem Willen, in alle Zukunft an Dinge in harter Pflicht gekettet bleibe, an die er sich hierin bloßer Lust gekettet hat. S. 270