3. Kap. Selbst der Abfall hervorragender Christen darf uns nicht in Verwirrung setzen. Ähnliches geschah schon zur Zeit Christi.
Es pflegt nun zu geschehen, daß solche Bewunderer1 von gewissen Persönlichkeiten, die von der Häresie betört wurden, zum Verderben sich auferbauen lassen. Warum ist der N. N. und die N. N., die so treu, so klug und so ergraut in der Kirche waren, zu jener Partei übergegangen? Wer, wenn er so fragt, gibt sich nicht selbst die Antwort: diejenigen, welche durch die Häresien abwendig gemacht werden konnten, sind weder für klug, noch für treu, noch für ergraut zu halten? Und ist es denn, dünkt mich, etwas so Auffallendes, daß einer, der sich früher bewährt hat, nachher abfällt? Saul, gerecht vor den übrigen, geht später durch seinen Neid zugrunde. David, ein Gerechter nach dem Herzen des Herrn, macht sich später des Mordes und der Notzucht schuldig. Salomo, vom Herrn mit jeglicher Gnade und Weisheit beschenkt, wird durch Weiber zum Götzendienst verleitet. - Dem Sohne Gottes allein war es vorbehalten, ohne Fehltritt zu bleiben. Was soll es also? Wenn ein Bischof, ein Diakon, eine Witwe, eine Jungfrau, ein Lehrer, ja wenn sogar ein Märtyrer von der Glaubensregel abfällt, werden dadurch die Häresien den Anschein gewinnen, als seien sie im Besitz der Wahrheit? Beurteilen wir denn den Glauben nach den Personen oder die Personen nach dem Glauben? Niemand ist weise, niemand ist treu, niemand ist hochgestellt2, als nur der Christ. Niemand aber ist ein Christ, als wenn er ausharret bis ans Ende. Du aber, als bloßer Mensch, kennst jeden nur von außen. Du urteilst nach dem, was du siehst. Du siehst aber nur so weit, als deine Augen reichen. „Die Augen des Herrn dagegen“, heißt S. 309es, „dringen in die Tiefe; der Mensch sieht auf das Angesicht, Gott aber ins Herz“3. Deshalb sieht und deshalb erkennt der Herr, welches die Seinigen sind4; die Pflanze, die er nicht gepflanzt hat, rodet er aus5, macht aus den ersten die letzten6 und trägt die Wurfschaufel in seiner Hand, um seine Tenne zu reinigen7. Mag die Spreu des leichten Glaubens, so weit sie will, bei jedem Winde der Versuchungen davonfliegen, um so reiner wird die Masse des Getreides in die Scheuern des Herrn niedergelegt werden. Haben sich nicht sogar vom Herrn selbst einige seiner Schüler abgewendet, weil sie Ärgernis nahmen? Deswegen glaubten aber die andern doch nicht, seine Fußstapfen auch verlassen zu müssen, sondern die, welche wußten, daß er das Wort des Lebens und von Gott gekommen sei, die hielten in seinem Gefolge aus bis zum Ende, obwohl er ihnen ganz ruhig angeboten hatte, ob sie etwa auch fortgehen wollten8. Weniger zu bedeuten hat es, wenn Leute wie Phygellus, Hermogenes und Hymenäus9 seinen Apostel verlassen haben; der Verräter Christi selbst ja war einer der Apostel. Wir finden es an den Kirchengemeinden Christi auffallend, wenn sie von einigen verlassen werden - während gerade diese Erscheinung, die wir nach dem Vorgange Christi selbst erdulden, den Beweis liefert, daß wir Christen sind. „Sie sind von uns ausgegangen“, heißt es, „aber sie waren nicht aus uns. Wenn sie aus uns gewesen wären, so wären sie nämlich bei uns geblieben“10.
der Macht der Häresien, nach der Lesart „miriones“, andere haben „infirmiores“. ↩
maior = besitzt eine kirchliche Stellung als Priester, Bischof usw. ↩
1 Kön. 16, 7. ↩
2 Tim. 2, 19. ↩
Matth. 15, 13. ↩
Ebd. 20, 16. ↩
Ebd. 3, 12. ↩
Vgl. Joh. 6, 61-70. ↩
welche Paulus 2 Tim. 1, 15 u. 2, 17 als untreue Schüler und Häretiker namhaft macht. ↩
1 Joh. 2, 19. ↩
