12. Vom Anbetungs-Gebete (oratio).
Gebete sind jene, durch welche wir Gott Etwas darbringen oder weihen, was im Griechischen εὐχή heißt, also Gelübde. Denn wo es im Griechischen heißt: τὰς εὐχάς μου τῷ κυρίῳ ἀποδώσω, da liest man im Lateinischen: „Meine Gelübde werde ich dem Herrn darbringen,“ was nach der eigenthümlichen Bedeutung des Wortes auch so ausgedrückt werden kann: „Meine Gebete werde ich dem Herrn darbringen.“ Was im Prediger steht, nemlich: „Wenn du Gott ein Gelübde weihest, so zögere nicht, es zu erfüllen,“ S. a554 wird im Griechischen einfach so ausgedrückt: ἐὰν εὔξῃ εὐχὴν κυρίῳ — d. i.: „Wenn du ein Gebet dem Herrn darbringen willst, so zögere nicht, es auszuführen.“ Das kann Jeder von uns so erfüllen: Wir beten, wenn wir dieser Welt entsagen, und geloben, daß wir, todt für das Thun und Treiben der Welt, mit ganzer Herzensneigung dem Herrn dienen wollen. Wir beten, wenn wir versprechen, mit Verachtung der weltlichen Ehre und Entsagung irdischer Schätze in aller Herzenszerknirschung und Geistesarmuth dem Herrn anhängen zu wollen. Wir beten, wenn wir versprechen, die reinste Keuschheit des Körpers oder eine unerschütterliche Geduld immer üben zu wollen, oder wenn wir geloben, aus unseren Herzen die Wurzeln des Zornes oder der todbringenden Traurigkeit gänzlich ausreissen zu wollen. Wenn wir aber das in träger Nachlässigkeit und im Rückfall zu den alten Lastern nicht thun, dann sind wir zu Sündern geworden an unsern Gebeten und Gelübden, und es wird für uns heissen: „Besser ist nicht geloben, als geloben und nicht halten,“ was nach dem Griechischen auch so ausgedrückt werden kann: „Besser ist nicht beten, als beten und nicht geben.“ 1
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Pred. 5, 3. 4. ↩