3. Daß die Vollkommenheit des thätigen Lebens in zweifacher Beziehung bestehe.
Diese praktische Vollkommenheit nun besteht auf zweierlei Art. Ihre erste Weise ist, daß die Natur aller Laster und die Art ihrer Heilung erkannt werde; die zweite, daß die Ordnung der Tugenden so unterschieden und unser Geist in ihrer Vollkommenheit so gebildet werde, daß er S. b100 ihnen nicht wie gezwungen und von gewaltsamem Befehl unterworfen diene, sondern sich an ihnen wie an seinem naturgemäßen Gute erfreue und weide und so jenen rauhen und engen Weg mit Wonne wandle. Denn wie soll Derjenige die Weise der Tugenden, wie es der zweite Grad in der Lehre vom Handeln ist, erreichen können oder gar die Geheimnisse der geistigen und himmlischen Dinge, welche auf der höhern Stufe der Beschauung sich finden, der die Natur seiner Laster nicht einsehen konnte und nicht bestrebt war, sie auszurotten? Denn folgerichtig behauptet man, daß Derjenige nicht zum Höhern vorschreiten könne, welcher das mehr in der Ebene Liegende nicht überwunden hat: und viel weniger wird Einer Das, was ausser ihm ist, ergreifen, wenn er nicht verstehen konnte, was ihm eingeboren ist. Man muß aber wissen, daß wir in doppelter Richtung der Arbeit uns abmühen müssen, sowohl bei der Austreibung der Laster als bei der Erwerbung der Tugenden. Das nehmen wir nicht aus eigener Erschließung ab, sondern werden darüber belehrt durch den Ausspruch Desjenigen, der allein die Kräfte und die Art seines Wirkens erkennt und sagt: 1 „Siehe, ich setze dich heute über Völler und Reiche, daß du ausreissest und zerstörest, vernichtest und zerstreuest, aufbauest und pflanzest.“ Er bezeichnet also in der Ausrottung schädlicher Dinge ein Vierfaches als nöthig, nemlich ausreissen und zerstören, vernichten und zerstreuen; in der Vollendung der Tugenden aber und in der Erwerbung dessen, was zur Gerechtigkeit gehört, nur das Aufbauen und Pflanzen. Daraus erhellt klar, daß viel schwerer die veralteten Leidenschaften des Leibes und der Seele vernichtet und entwurzelt werden, als die geistlichen Tugenden sich aufbauen und anpflanzen lassen.
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Jerem. 1, 10. ↩