16.
Dein Gebet übersteigt also den Stolz des Pharisäers und findet seine Verurteilung, wenn es mit dem S. 491 des Zöllners verglichen wird. Er stand von weitem und wagte nicht, die Augen zu Gott zu erheben. Aber er schlug an seine Brust und sprach: „O Herr, sei mir Sünder gnädig!“ Deshalb lautet das Urteil des Herrn: „Ich sage euch, dieser kehrte mit größerer Gerechtigkeit in sein Haus zurück als jener. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“1. Die Apostel verdemütigen sich, um erhöht zu werden. Deine Anhänger erheben sich, um herabzustürzen. Du errötest nicht, in Schmeichelworten der genannten Witwe von einer Frömmigkeit zu sprechen, die sich nirgendwo auf Erden vorfindet, und ihr eine solch hervorragende Wahrheitsliebe zuzuerkennen, wie sie überall fremd ist. Du denkst wohl nicht an jenen Ausspruch: „Mein Volk, jene, die dich glücklich nennen, verführen dich und stellen dem Wege deiner Füße heimlich nach“2. Du wendest dich an sie in Lobsprüchen und sagst: „O du überaus Glückliche und Selige! Denn die Gerechtigkeit, die man nur im Himmel zu finden glaubt, kann man auf Erden einzig und allein bei dir wahrnehmen“. Wenn man einem Weiblein zuspricht, was die Engel Gottes für sich nicht zu beanspruchen wagen, heißt das belehren oder töten, von der Erde emporheben oder aus dem Himmel herabstürzen? Wenn aber die Frömmigkeit, die Wahrhaftigkeit und die Gerechtigkeit hier auf Erden nur bei einer einzigen Frau sich feststellen lassen, wo bleiben denn dann deine Gerechten, von denen du in ruhmseligen Worten verkündest, daß sie auf Erden schon sündlos seien? Freilich pflegst du bezüglich der beiden Abschnitte, die vom Gebete und Lobpreis handeln, mit deinen Schülern zu schwören, sie stammten nicht von dir. Aber aus ihnen lugt dein glänzender Stil ganz deutlich hervor, und sie verraten eine solche Anmut ciceronianischer Beredsamkeit, daß du wie eine Schildkröte einherschreitest3 und nicht wagst, dich offen zu dem zu bekennen, was du im Geheimen lehrst und feilhältst. O wie S. 492 glücklich bist du zu preisen, dessen Schriften nur deine Schüler niederschreiben, so daß du, sobald du irgendwie Mißfallen zu erregen scheinst, die Urheberschaft bestreiten und auf einen anderen Verfasser abwälzen kannst. Wer hätte übrigens die Fähigkeit, den Liebreiz deiner Sprache nachahmen zu können?