1.
S. 95Wenn alle Glieder meines Körpers sich in Zungen verwandelten und alle Muskeln sprechen könnten, dann wäre ich noch immer nicht imstande, etwas anzuführen, was den Tugenden der heiligen und ehrwürdigen Paula in geziemender Weise an die Seite zu stellen wäre. Vornehm war sie durch ihre Abstammung, aber noch viel vornehmer wegen ihrer Heiligkeit. Einst war sie ausgezeichnet wegen ihrer Reichtümer, jetzt steht sie noch höher durch ihre Armut um Christi willen. Sie, ein Glied der Gracchenfamilie1 , ein Abkömmling der Scipionen, die Erbin des Paulus, dessen Namen sie führte, sie, ein wahrer und echter Sprößling der Martia Papiria, der Mutter des Africanus, zog Bethlehem der Stadt Rom vor und vertauschte die goldfunkelnden Dächer mit einer armseligen, unförmlichen Lehmhütte. Nicht wollen wir trauern darüber, daß wir sie verloren haben, sondern wir wollen dankbar sein dafür, daß wir sie gehabt haben, ja auch jetzt noch besitzen. Denn alles lebt für Gott, und was auch immer heimkehrt zum Herrn, wird noch mit zur Familie gerechnet. Freilich, was wir als Verlust S. 96empfinden, dürfte für sie den Erwerb der himmlischen Wohnung bedeuten. Denn solange sie lebte, wandelte sie noch fern vom Herrn2 und mit klagender Stimme seufzte sie immer: „Wehe mir, weil meine Pilgerschaft sich verlängert, ich wohne unter den Bewohnern Cedars, viel bin ich umhergewandert“3 . Es nimmt auch nicht Wunder4 , wenn sie klagt, sie wandle in der Finsternis — so wird nämlich Cedar übersetzt —, zumal die Welt im Argen liegt5 und ihre Finsternis gleich ihrem Licht ist6 , während das Licht, das in der Finsternis leuchtet, von der Finsternis nicht aufgenommen worden ist7 . Deshalb führte sie auch häufig das Schriftwort an: „Ein fremder Ankömmling bin ich wie alle meine Väter“8 , und jenes andere: „Ich wünsche aufgelöst und bei Christus zu sein“9 . So oft sie unter ihrer Körperschwäche litt, welche sie durch unglaubliche Enthaltsamkeit und verdoppeltes Fasten sich zugezogen hatte, pflegte sie zu sagen: „Ich unterjoche meinen Körper und bringe ihn in Dienstbarkeit, damit ich nicht, während ich anderen predige, selbst verworfen werde“10 , oder: „Besser ist es, keinen Wein zu trinken und kein Fleisch zu essen“11 , oder: „Ich verdemütige mich durch Fasten“12 , oder: „Mein ganzes Krankenlager wandelst du um in Schwachheit“13 , oder: „Ich verweile im Elend; denn ein Dorn wühlt in meinem Fleische“14 . So oft schmerzhafte Stiche, welche sie mit bewunderungswürdiger Geduld S. 97aushielt, sie quälten, sprach sie, wie wenn sie den Himmel offen sähe: „Wer gibt mir Flügel gleich denen einer Taube, damit ich entfliehen und zur Ruhe kommen kann?“15
-
Die heilige Paula stammte aus dem Geschlechte des Lucius Aemilius Paulus, des Eroberers von Macedonien unter dem letzten Könige Perseus, dessen Sohn Aemilius Paulus von dem Sohne des älteren Scipio Africanus adoptiert wurde und als späterer Zerstörer von Karthago mit seinem Adoptiv-Großvater den gleichen Namen Publ. Cornel. Scipio Africanus [Minor] führte. Dieses letzteren Mutter, Gemahlin des Aemilius Paulus Macedonicus, hieß Martia Papiria, Tochter des Papirius Maso. Die Scipionen und Gracchen waren aber nahe verwandt, da Cornelia, die Tochter des älteren Scipio Africanus, die Mutter der berühmten beiden Gracchen war. Insofern gehörte Paula auch dem Stamme der Gracchen an. ↩
-
2 Kor. 5:6. ↩
-
Ps. 119:5. ↩
-
Hilberg entscheidet sich für „et mirum“ auf Grund des Sessorinanus 55 saec. VII., obwohl eine ältere und alle jüngeren Handschriften sich für das sinngemäßere nec mirum aussprechen. ↩
-
1 Joh. 5:13. ↩
-
Ps. 138:12. ↩
-
Joh. 1:5. ↩
-
Ps. 38:18. ↩
-
Philip. 1:23. ↩
-
1 Kor. 9:27. ↩
-
Röm. 14:21. ↩
-
Ps. 34:13. ↩
-
Ps. 40:4. ↩
-
Ps. 31:4 nach LLX ↩
-
Ps. 54:7 ↩