Vorrede zu den Schriften der syrischen Dichter
S. 6 Vorliegender Band stellt zunächst eine Neubearbeitung der von Professor G. Bickell in der 1. Auflage der „Bibliothek der Kirchenväter“ gebotenen Auswahl aus den syrischen Dichtern Cyrillonas, Baläus, Isaak von Antiochien und Jakob von Sarug dar. Schon die Pietät gegen den um die syrische Literatur hochverdienten Gelehrten, der eine ganze Reihe syrischer Schriftwerke zum ersten Male einem größeren Publikum durch Übersetzung zugänglich gemacht hat, vielfach noch bevor die Originaltexte überhaupt veröffentlicht waren, gebot es, nicht nur die von ihm ausgewählten Stücke beizubehalten, sondern auch den Wortlaut seiner Übersetzung, soweit nicht neuere, kritische Textausgaben eine Änderung nahelegten, möglichst unangetastet zu lassen. Dagegen schien es angezeigt, die Auswahl mit Rücksicht auf den Umfang des nunmehr zur Verfügung stehenden Materials bedeutend zu erweitern. Diese Erweiterungen kamen besonders den beiden letztgenannten Dichtern zugute, von welchen wir jetzt dank der unermüdlichen Tätigkeit P. Bedjans vorzügliche kritische Ausgaben besitzen.
Die Gesichtspunkte, nach welchen die Auswahl getroffen wurde, waren zunächst nicht ästhetische, wenn sie auch nicht ganz außer acht gelassen wurden – die syrische Poesie, wenigstens soweit unsere Dichter in Betracht kommen, ist ja meist tatsächlich nichts anderes als in Verse gegossene Prosa – sondern rein sachliche: in erster Linie die Rücksicht auf die Kirchenlehre, als deren Zeugen sie ja in der Überlieferung fungieren, in zweiter Linie auch der Wunsch, einen Einblick zu gewähren in das Leben und die Disziplin der altsyrischen Kirche. Dieser Umstand mag es auch rechtfertigen, dass Isaak von Antiochien und Jakob von Sarug in der neuen Ausgabe nicht nur beibehalten, sondern S. 7 sogar bedeutend vermehrt wurden, obwohl die Orthodoxie des einen wenigstens als sehr zweifelhaft, die des andern als nahezu ausgeschlossen gelten muss. Der Wert ihrer Zeugenschaft für die alte, echte Tradition der syrischen Kirche wird dadurch nur erhöht.
Die ziemlich umfangreichen literargeschichtlichen Einleitungen, welche Bickell den Werken der einzelnen Dichter vorausschickte, sind nach Möglichkeit gekürzt worden, mussten aber der Hauptsache nach beibehalten werden, da die betreffenden Fragen anderweitig eine zusammenfassende Behandlung meist noch nicht gefunden haben. Bei der Wiedergabe der Texte selbst war ich bestrebt, bei möglichst genauem Anschluss ein lesbares, nicht allzuschwer verständliches Deutsch zu bieten. Wie schwer dies im einzelnen Falle ist, gerade bei poetischen Vorlagen orientalischen Ursprungs, weiß jeder, der sich einmal mit solchen beschäftigt hat. Die Einfügung der Verszählung in den Text dürfte manchem zur bequemeren Zitation sowie zur leichteren Auffindung einzelner Stellen im Originaltext willkommen sein.
Möge die „Auswahl“ auch in ihrer neuen Bearbeitung recht vielen dazu verhelfen, sich einen Einblick zu verschaffen in das reiche kirchliche Leben im alten christlichen Orient und sich zu erfreuen an dem erfrischenden Glaubenseifer und Glaubensmut, der einst jene jetzt leider physisch wie geistig ganz verödeten Teile der Kirche belebte.
Scheyern, 26. Juli 1912. Der Übersetzer.