Erster Artikel. Die Leidenschaften in der Begehrkraft sind andere wie die in der Abwehrkraft.
a) Das Gegenteil wird erwiesen: I. Den Leidenschaften der Seele folgt (nach 2 Ethic. 5.) die Freude und die Trauer; die in der Begehrkraft, in der concupiscibilis ihren Sitz haben. Also ist letztere der Sitz aller Leidenschaften. II. Die Glosse zu Matth. 13. (Simile) von Hieronymus sagt: „In der Vernunft besitzen wir die Klugheit, in der Abwehrkraft den Haß der Laster, in der Begehrkraft das Verlangen nach der Tugend.“ Der Haß aber hat zum Sitz die Begehrkraft, wie dies auch ebenso mit der Liebe der Fall ist, dem Gegensatze zum Hasse (vgl. 2. Topic;. 3.). Also die gleiche Leidenschaft ist in der Begehrkraft und in der Abwehrkraft. III. Die Leidenschaften und Thätigkeiten haben als Richtschnur ihrer Verschiedenheit in der Gattung die Gegenstände. Die nämlichen Gegenstände aber hat die Begchrkraft wie die Abwehrkraft; beide haben zum Gegenstande das Gute und Böse. Also besteht da keine Verschiedenheit zwischen den beiderseitigen Leidenschaften. Auf der anderen Seite sind die Thätigkeiten von untereinander verschiedenen Vermögen der Gattung nach verschieden; wie hören, sehen, riechen. Die Begehrkraft aber und die Abwehrkraft, die concupiscibilis et irascibilis, sind zwei verschiedene Vermögen des einen sinnlichen Begehrens, wie 1. Kap. 81, Art. 2. gesagt worden. Da also die Leidenschaften Eindrücke oder Bewegungen sind innerhalb des sinnlichen Begehrens, so müssen auch der Gattung nach verschieden sein die Leidenschaften der Begehrkraft von denen der Abwehrkraft.
b) Ich antworte, die Leidenschaften in der Begehrkraft seien der Gattung nach verschieden von denen der Abwehrkraft. Denn da verschiedene Vermögen auf verschiedene Gegenstände gerichtet sind (I. Kap. 77, Art. 3.), so ist es notwendig, daß, wo in den voneinander verschiedenen Vermögen Leidenschaften sich finden, diese letzteren ebenfalls auf verschiedene Gegenstände sich richten. Weit tiefer also ist der Unterschied, welcher die Leidenschaften verschiedener Vermögen der Gattung nach voneinander trennt, wie der Unterschied, der vom bloßen Gegenstande herkommt. Denn ein größerer Unterschied im Gegenstande wird erfordert, um die Gattungsverschiedenheit in den Vermögen herzustellen, als um die Gattungsverschiedenheit bloß in den Leidenschaften und Thätigkeiten zu begründen. Denn wie im Bereiche der Natur die Verschiedenheit in der „Art“ begründet ist in der Verschiedenheit des bestimmbaren, zu vollendenden Vermögens im Stoffe; die Verschiedenheit in der Gattung aber von der Verschiedenheit der bestimmenden und vollendenden Form im gleichartigen stofflichen Vermögen herrührt; — so ähnlich ist es im Bereiche der Thätigkeiten der Seele. Jene Thätigkeiten, welche verschiedenen Vermögen angehören, sind nicht nur der Gattung, sondern auch der „Art“ nach verschieden. Soweit aber die Thätigkeiten und Leidenschaften auf verschiedene besondere Gegenstände sich richten, welche alle insgesamt inbegriffen sind in dem einen gemeinsamen Gegenstande des nämlichen Vermögens, besteht unter ihnen ein Unterschied der Gattung nach. Um demnach zu erkennen, welche Leidenschaften in der Begehr- und welche in der Abwehrkraft sind, muß man den Gegenstand beider Vermögen in Betracht ziehen. Nun ist oben (I. qu. 81, art. 2.) gesagt worden, daß der Gegenstand des Vermögens, welches Begehrkraft heißt, ist: das Gute und Böse schlechthin als das Ergötzliche oder das Schmerzhafte. Weil es jedoch notwendig ist, daß die Seele manchmal Schwierigkeiten leide oder kämpfe im Streben nach der Erreichung eines Gutes oder nach der Abwendung eines Übels, insoweit nämlich der Erfolg eines solchen Strebens höher steht als die gewöhnliche, leicht anwendbare Kraft des sinnlichen Wesens; — deshalb ist das Gute oder Böse als mit Schwierigleiten verknüpft Gegenstand der Abwehrkraft, der irascibilis. Welche Leidenschaften also schlechthin auf das Gute oder das Böse gerichtet sind, gehören der Begehrkraft, der concupiscibillis, an; wie die Freude, die Trauer, die Liebe, der Haß u. ähnl. Welche Leidenschaften aber auf das Gute oder Böse sich richten als auf etwas schwer zu Erreichendes, gehören zur Abwehrkraft; wie die Kühnheit, die Furcht, die Hoffnung u. dgl.
c) I. Deshalb (I. Kap. 81, Art. 2.) ist dem sinnbegabten Wesen die Abwehrkraft gegeben, auf daß die Hindernisse entfernt werden, welche die Begehrkraft abhalten, um nach ihrem Gegenstande zu streben: beim Guten wegen der Schwierigkeiten, es in Besitz zu nehmen; beim Bösen wegen der Schwierigkeit, es fernzuhalten. Und deshalb münden alle Leidenschaften der Abwehrkraft in die Leidenschaften der Begehrkraft. Demgemäß also folgtallen Leidenschaften, auch denen in der Abwehrkraft, die Freude und die Trauer, deren Sitz die Begehrkraft ist. II. Den Haß der Laster teilt Hieronymus der Abwehrkraft zu wegen des damit verbundenen Kampfes; denn der Haß an und für sich ist in der Begehrkraft. III. Das Gute setzt die Begehrkraft in Thätigkeit, insoweit es etwas Ergötzliches ist. Ist aber mit diesem Guten, um es zu erreichen, eine Schwierigkeit verbunden, so ist dies nichts Ergötzliches, steht also im Gegensatze zur Natur der begehrenden concupiscibilis. Und deshalb muß eine andere Kraft angenommen werden, die abwehrende irascibilis, welche eben diese Schwierigkeiten zum Gegenstande hat. Sonach, da dasselbe vom Übel gilt, sind die Gattungen der Leidenschaften in der Begehrkraft verschieden von den Gattungen der Leidenschaften m der Abwehrkraft.
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