Zweiter Artikel. Über den Gegensatz der Leidenschaften in der Abwehrkraft untereinander.
a) Dieser Gegensatz scheint sich einzig und allein nach dem Gegensatze von „gut“ und „böse“ zu richten. Denn: I. Die Leidenschaften, welche in der Abwehrkraft ihren Sitz haben, sind hingeordnet und enden in die Leidenschaften der Begehrkraft. Diese letzteren aber folgen in ihrem Gegensatze nur der Richtschnur des Gegensatzes von „gut“ und „böse“; wie Liebe und Haß, Freude und Trauer. Also ist dies auch mit denen in der Abwehrkraft der Fall. II. Die Leidenschaften unterscheiden sich gemäß ihren Gegenständen; gleichwie die körperlichen Bewegungen gemäß ihrer Richtung auf den Abschlußpunkt. Nun ist kein Gegensatz in den Bewegungen außer jenem, welcher gemäß dem Gegensatze im Abschlußpunkte, im terminus, besteht. Also ist auch in den Leidenschaften nur ein Gegensatz gemäß dem Gegensatze in den Gegenständen. Aber der Gegenstand des Begehrens ist das Gute und Böse. Also nur danach kann ein Gegensatz in den Leidenschaften bestehen. III. Jegliche Leidenschaft der Seele wird nach Avicenna (6. de natural.) bemessen nach dem Mehr und dem Minder, nach der Annäherung und der Entfernung. Die Annäherung oder das Mehr aber wird vom Guten her verursacht, was in ihnen maßgebend ist; die Entfernung oder das Minder vom Bösen in ihnen. Denn „gut“ ist, wonach Alles begehrt, wie es Ethic. 1. heißt; „böse“, wovor Alles flieht. Also nur gemäß dem Guten und Bösen besteht ein Gegensatz in den Leidenschaften der Seele. Auf der anderen Seite ist die Furcht im Gegensatze zur Kühnheit; wie 3. Ethic. 7. gesagt wird. Furcht und Kühnheit sind aber nicht voneinander unterschieden gemäß dem Guten und Bösen; denn beide Leidenschaften haben zum Gegenstande etwas Böses. Also nicht jeder Gegensatz in den Leidenschaften der Abwehrkraft ist gemäß dem Gegensatze von „gut“ und „böse“.
b) Ich antworte, die Leidenschaften als gewisse Bewegungen müssen in ihrem Gegensatze betrachtet werden gemäß dem Gegensatze, der in den Bewegungen oder Veränderungen sich findet. Nun besteht in den Bewegungen und Veränderungen ein doppelter Gegensatz: einmal nach Annäherungund Entfernung mit Rücksicht auf ein und denselben Abschluß; — und diese Art Gegensatz ist so recht den Veränderungen eigen, d. h. dem Erzeugen, was da Veränderung ist zu einem bestimmten Sein hin, und dem Vergehen, was da Veränderung ist von einem bestimmten Sein ab. Dann ist ein weiterer Gegensatz zu beobachten gemäß dem Gegensatze, den der eine Abschlußpunkt oder ternunus zum anderen hat; — und diese Art Gegensatz entspricht so recht eigen den eigentlichen Bewegungen; wie z. B. das Weißwerden, was da Bewegung ist vom Schwarzen zum Weißen, im Gegensatze steht zum Schwarzwerden, was da Bewegung ist vom Weißen zum Schwarzen. So also findet sich demgemäß auch ein doppelter Gegensatz in den Leidenschaften der Seele; nämlich der eine nach dem Gegensatze in den Gegenständen: „gut“ und „böse“; der andere nach der Annäherung oder der Entfernung, dem Mehr oder Minder mit Rücksicht auf ein und denselben Abschluß. In den Leidenschaften der Begehrkraft zwar findet sich nur der erste Gegensatz, nämlich gemäß dem Gegenstande: „gut“ oder „böse“. In denen der Abwehrkraft aber finden sich beide Arten von Gegensatz. Der Grund davon ist, daß der Gegenstand der Begehrkraft, der concupiscibilis, wie bereits gesagt, das Gute oder Böse schlechthin ist, falls es nur mit den Sinnen wahrnehmbar erscheint. Denn das erfaßte Gute kann kein Abschlußpunkt sein, von dem man sich entfernt, sondern nur ein solcher, dem man zustrebt; da nichts das Gute insoweit es als Gutes dasteht flieht, sondern es begehrt. Und ebenso kann das als solches erfaßte Böse von keinem Wesen erstrebt werden, sondern es wird immer geflohen von Allem; es kann also kein Abschluß sein, dem man zustrebt. Jede Leidenschaft sonach in der Begehrkraft rücksichtlich des Guten ist diesem zustrebend, wie die Liebe, das Verlangen, die Freude; — und jede da befindliche Leidenschaft rücksichtlich des Bösen ist von diesem abgewendet, wie der Haß, die Flucht und die Trauer. Gemäß dem Gegensatze also, nach dem man sich ein und demselben Gegenstande nähert oder von ihm sich entfernt, besteht kein Gegensatz in diesen Leidenschaften. Anders verhält es sich mit dem Gegenstande der Abwehrkraft. Es ist dies nicht mehr das sinnlich wahrnehmbare Gute oder Böse schlechthin, sondern insoweit Schwierigkeiten bestehen. Ein schwer zu erreichendes Gut aber hat es wohl in sich, daß man danach strebt, weil es ein Gut ist; zugleich jedoch schließt es auch in sich ein, daß man von selbem sich entfernt, weil es Schwierigkeiten hat. In erstgenanntem Sinne besteht die Leidenschaft der Hoffnung, welche zum Guten hinwendet; im letztgenannten besteht die Leidenschaft der Verzweiflung, welche davon abwendet. Ähnlich hat das schwer zu vermeidende Böse es als Böses in sich, daß man davor flieht, es vermeidet; — und da ist die Leidenschaft der Furcht. Zugleich aber schließt es in sich ein, daß man darauf losgeht, wie auf etwas Schwieriges, um nämlich diesem Bösen nicht zu unterliegen; — und da ist die Leidenschaft der Kühnheit. So ist also in den Leidenschaften der Abwehrkraft der eine Gegensatz der gemäß dem Gegensatze von „gut“ und „böse“, wie zwischen der Furcht und der Hoffnung; — der andere ist gemäß dem Annähern und der Entfernung mit Rücksicht auf ein und denselben Gegenstand, wie zwischen Furcht und Kühnheit.
c) Damit sind die Einwürfe gelöst.
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