Erster Artikel. Die Furcht ist eine Leidenschaft der 5eele.
a) Dagegen schreibt: I. Damascenus (3. de orth. fide 23.): „Die Furcht ist eine Tugend, welche zusammenzieht und die Hilfe der Natur innerlich verlangt.“ „Keine Tugend aber ist Leidenschaft,“ sagt Aristoteles. (2 Ethic. 5.) Also. II. Jede Leidenschaft ist eine Wirkung, die von der Gegenwart desEinwirkenden ausgeht. Die Furcht aber geht nicht auf Gegenwärtiges, sondern auf Zukünftiges; wie Damascenus schreibt. (2. de orth. fide 12.) III. Jede Leidenschaft der Seele ist eine Bewegung im begehrenden Teile, die einer Auffassung von seiten der Sinne folgt. Der Sinn aber erfaßt nur das Gegenwärtige, nicht das Zukünftige. Da also die Furcht das zukünftige Übel berücksichtigt, ist sie keine Leidenschaft. Auf der anderen Seite steht die Autorität Augustins. (14. de civ. Dei 7.)
b) Ich antworte; daß unter allen Leidenschaften nach der Trauer die Furcht am allermeisten den Charakter der eigentlichen Leidenschaft trägt. Denn 1. gehört es zum Wesen der Leidenschaft, daß sie die Bewegung oder Thätigkeit eines leidenden d. h. aufnehmenden Vermögens sei; zu welcher nämlich der Gegenstand im Verhältnisse des Einwirkenden steht oder des Bewegenden. Und in diesem Sinne wird auch das sinnliche Auffassen und selbst das geistige Verstehen als ein „leiden“ bezeichnet. 2. Heißt im eigentlicheren Sinne Leidenschaft die Bewegung im begehrenden Teile; und 3. noch eigentlicher die Bewegung im sinnlichen begehrenden, an ein stoffliches Organ gebundenen Teile, die da sich vollzieht mit einer Veränderung im Körperlichen. Endlich 4. wird im eigentlichsten Sinne Leidenschaft jene Bewegung, die Schaden verursacht. Offenbar nun ist die Furcht im begehrenden Teile, denn ihr Gegenstand ist das Übel; sodann ist sie im begehrenden sinnlichen Teile, denn sie vollzieht sich zusammen mit einer körperlichen Veränderung, nämlich mit einem gewissen Zusammenziehen des Herzens. Endlich schließt sie ein in sich eine gewisse Beziehung zum Übel, insofern das Übel gleichsam den Sieg davonträgt über jemanden. Also nach der Trauer, die ja auf Grund des gegenwärtigen Übels besteht, ist im eigentlichsten Sinne die Furcht eine wahre Leidenschaft.
c) I. „Tugend“ bezeichnet ein gewisses Princip der Thätigkeit. Insoweit also die inneren Bewegungen im Begehren Principien der Thätigkeiten sind, werden sie „Tugenden“ genannt. Aristoteles aber leugnet, daß die Leidenschaft eine Tugend sei, insoweit diese ein Zustand ist. II. Das körperliche Leiden kommt von der körperlichen Gegenwart des Einwirkenden. Die sinnliche Leidenschaft kommt von der Gegenwart des Einwirkenden nach Art der Sinne. Und somit ist nach dieser Seite hin das Übel gegenwärtig kraft der Auffassung der Seele, wenn es auch der Wirklichkeit nach zukünftig ist. III. Der Sinn erfaßt nicht das Zukünftige. Aber auf Grund der Auffassung des Gegenwärtigen wird das sinnbegabte Wesen durch natürlichen Antrieb in ihm bewegt, daß es ein zukünftiges Gut suche oder ein zukünftiges Übel fürchte.
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