Zweiter Artikel. Die Furcht ist eine besondere, von den anderen unterschiedene Leidenschaft.
a) Dementgegen scheint die Stelle zu sein bei I. Augustin (83. Qq. 33.): „Wen nicht die Furcht entmutigt, den verwüstet weder die Begierde noch zehrt ab die Krankheit,“ d. i. die Trauer,„noch schüttelt ihn die hervorspringende und eitle Freude.“ Also scheint es, daß demjenigen, für welchen einmal die Furcht entfernt ist, alle anderen Leidenschaften schwinden; und folglich ist die Furcht keine besondere, sondern eine alle anderen zusammenfassende, allgemeine Leidenschaft. II. Aristoteles sagt (6 Ethic. 2.): „Wie sich im Begehren das Verfolgen und das Fliehen verhält, so in der Vernunft die Bejahung und Verneinung.“ Die Verneinung aber ebensowenig wie die Bejahung ist etwas Besonderes in der Vernunft, sondern etwas Vielem Gemeinsames; also ist dies auch nicht das Fliehen, d. h. die Furcht im Willen. III. Wäre die Furcht eine besondere Leidenschaft, so wäre sie zumal in der Abwehrkraft. Sie ist aber auch in der Begehrkraft; denn Aristoteles sagt: „Die Furcht ist eine gewisse Trauer,“ und Damascenus (3. de orth. fide 23.): „Die Furcht ist eine begehrende Tugend;“ was Alles, Trauer und Begehren, in der Begehrkraft ist. Also ist sie keine besondere Leidenschaft, sondern gehört verschiedenen Vermögen an. Auf der anderen Seite wird sie von Damascenus (2. de orth. fide 15.) neben den anderen Leidenschaften als von selben unterschieden aufgezählt.
b) Ich antworte; eine besondere Leidenschaft müsse einen besonderen Gegenstand haben. Die Furcht aber hat einen besonderen Gegenstand wie auch die Hoffnung einen solchen besitzt. Der Gegenstand der Hoffnung ist: das schwierige, künftige, mögliche Gut; der für die Furcht: das zukünftige, schwer zu vermeidende Übel.
c) I. Alle Leidenschaften wurzeln in der Liebe als dem gemeinsamen Princip; und auf Grund dieser Verbindung aller in der Liebe werden andere Leidenschaften entfernt, wenn man die Furcht fortnimmt. II. Das Fliehen vor etwas ist nicht im allgemeinen Furcht; sondern das Fliehen vor einem ganz eigengearteten Gegenstande ist Furcht. Deshalb kann wohl die Flucht im Begehren etwas Vielem Gemeinsames sein, nicht aber die Furcht; diese ist eine besondere Leidenschaft. III. Die Furcht ist nie in der Begehrkraft, der concupiscibilis. Denn ihr Gegenstand ist nicht das Übel schlechthin; sondern das schwer zu vermeidende Übel, dem man kaum widerstehen kann. Weil aber die Leidenschaften der Abwehrkraft, der irascibilis, von denen der Begehrkraft sich ableiten und in dieselbe auch münden (Kap. 25, Art. 1), deshalb wird der Furcht Manches zugeschrieben, was eigentlich der Begehrkraft zugehört. Denn die Furcht wird Trauer genannt, weil ihr Gegenstand etwas Betrübendes ist, sobald er gegenwärtig erscheint; weshalb Aristoteles (l. c.) sagt: „Die Furcht geht hervor von der Vorstellung eines Übels, das droht zu kommen und das da schädigt und betrübt.“ Als „Verlangen oder Begehren“ bezeichnet Damascenus die Furcht, weil, wie die Hoffnung verursacht wird vom Verlangen nach Gutem, so die Furcht von der Flucht vor dem Übel. Das Übel flieht man aber, weil man nach dem Guten sich sehnt.
