Sechster Artikel. Der Wille ist Sitz von Tugenden.
a) Dagegen spricht: I. Es kommt bereits dem Willen seinem Wesen nach zu, daß er nach einem von der Vernunft vorgestellten Gute strebt. Also bedarf es dazu keiner Tugend in ihm, da einerseits jede Tugend nach dem vernunftgemäßen Gute strebt und jedes Wesen andererseits von Natur das ihm eigene Gute verlangt. Denn „Tugend ist,“ wie Cicero schreibt (l. c.) „ein der Vernunft gemäßer Zustand, welcher nach Weise der Natur thätig ist.“ II. Die Tugend, welche die Vernunft vollendet, ist in der Ver nunft. Die moralische Tugend ist in der Begehr- und Abwehrkraft. Also, da es keine anderen Arten von Tugenden giebt, ist keine Tugend im Willen. III. Alle menschlichen Handlungen, auf welche einzelne Tugenden sich richten, sind freiwillige. Wäre also rücksichtlich einiger solcher Handlungen eine Tugend im Willen, dann auch aus demselben Grunde rücksichtlich aller. Entweder also ist dann in keinem anderen Vermögen eine Tugend oder es wären zwei Tugenden für die nämliche Thätigkeit, was unzukömmlich ist. Also der Wille trägt keinerlei Tugend. Auf der anderen Seite ist eine größere Vollendung erforderlich in der bewegenden Kraft wie in der in Bewegung gesetzten. Der Wille aber setzt in Bewegung die Begehr- und Abwehrkraft. Also muß mit weit größerem Rechte im Willen eine Tugend sein.
b) Ich antworte; da vermittelst der Tugend das Vermögen vollendet wird, auf daß es thätig sei, so bedarf es dort der Tugenden, wo die dem Vermögen eigene Natur nicht ausreicht. Da nun der Gegenstand des Willens, gemäß dem die Natur des Willens erwogen wird, das vernunftgemäße Gute ist, so bedarf es mit Rücksicht darauf keiner Tugend für den Willen. Handelt es sich aber für den Menschen um das Wollen eines Gutes, welches von Natur aus zum Willen nicht im gebührenden Verhältnisse steht, sei es daß es die Kräfte der ganzen menschlichen Natur überragt (wie das göttliche Gut), sei es daß es die Kräfte des einzelnen Menschen übersteigt im einzelnen Falle (wie das was für den Nächsten ein Gut ist), so bedarf der Wille dieserhalb einer Tugend. Derartige Tugenden also, welche die Neigung des Menschen zu Gott hin oder zum Nächsten hin regeln oder vollenden, sind im Willen wie in ihrem Subjekte; z. B. die Liebe, Gerechtigkeit u. s. w.
c) I. Der Einwurf hat recht, wenn es sich um jene Tugenden handelt, welche auf das vernunftgemäße Gute des Wollenden selber sich richten; wie die Mäßigkeit, Stärke etc. II. Nicht nur die Begehr- und Abwehrkraft nimmt als Begehren an der Vernunft teil, sondern auch der Wille; und sonach ist die Tugend, welche im Willen ihren Sitz hat, eine moralische, wenn sie nicht zu den theologischen (s. unten) gehört. III. Zum Guten hin, was in der geregelten Leidenschaft allein besteht, bedarf es keiner Tugend im Willen selber; dazu genügt die Natur des Willensvermögens. Nur für ein Gut, was außen ist, bedarf es einer Tugend im Willen, wie gesagt worden.
