Fünfter Artikel. In den sinnlichen auffassenden Kräften sind keine Tugenden.
a) Dies scheint jedoch der Fall zu sein. Denn: I. Wie die begehrenden Kräfte, so folgen auch die sinnlichen auffassenden Kräfte der Vernunft; auf die Anordnung der Vernunft hin nämlich tritt in Thätigkeit die Einbildungskraft, das Gedächtnis etc. Also sind auch sie Sitz von Tugenden. II. Ebenso kann die Vernunft gehindert werden in ihrer Thätigkeit durch die auffassenden Kräfte des sinnlichen Teiles, wie der Wille gehindert werden kann durch die begehrenden Kräfte dieses sinnlichen Teiles. Also besteht auf beiden Seiten das nämliche Bedürfnis nach Tugenden. III. Die Klugheit ist eine Tugend und als einen Teil von ihr bezeichnet Cicero (Rhet. 2. de invent.) das Gedächtnis. Also kann in der Gedächtniskraft eine Tugend sich finden und ebenso demnach in den anderen sinnlich auffassenden Kräften. Auf der anderen Seite sind alle Tugenden entweder in der Vernunft befindliche und diese vollendende oder es sind moralische; nach 2 Ethic. 1. Die moralischen Tugenden aber sind alle im begehrenden Teile. Also ist in den auffassenden Kräften keine.
b) Ich antworte; in den inneren auffassenden Kräften des sinnlichen Teiles werden einige Zustände angenommen, wie Aristoteles (de memor. 2.) sagt: „Beim Sich-Erinnern an das Eine nach dem Anderen wirkt die Gewohnheit, die da gleichsam eine zweite Natur ist.“ Ein Zustand aber ist nichts Anderes wie eine Gewohnheit, die man durch häufigere Akte sich erworben und die nun nach Weise der Natur thätig ist. Im Menschen jedoch ist das Gewohnheitsmäßige in der Gedächtniskraft und ähnlichen sinnlichen Kräften an und für sich kein Zustand, sondern etwas die Zustände im vernünftigen Teile Begleitendes, wie bereits Art. 2 und Kap. 50, Art. 4 ad 3 gesagt worden. Würden jedoch auch in dem erwähnten sinnlichen Teile auch Zustände sich finden, so könnten sie trotzdem nicht Tugenden genannt werden. Denn Tugend besagt einen vollkommenen Zustand, vermittelst dessen nur das Gute gewirkt wird. Also darf Tugend nur in einem Vermögen ihren Sitz haben, welchem es zukommt, das gute Werk zu vollenden. Die Kenntnis des Wahren aber vollendet sich nicht in den sinnlich auffassenden Kräften, die da nur vorbereiten den Gegenstand für die eigentlich vernünftige Kenntnis. Also sind in diesen niederen Kräften keine Tugenden, vermittelst deren das Wahre erkannt wird, sondern vielmehr in der Vernunft.
c) I. Die sinnlichen begehrenden Kräfte verhalten sich zum Willen wie das was in Thätigkeit oder Bewegung gesetzt wird. Deshalb wird das Wirken des Willens im sinnlich begehrenden Teile, der von ihm in Bewegung gesetzt wird, vervollständigt; und danach ist dieser Teil Sitz von Tugenden. Die auffassenden sinnlichen Kräfte aber verhalten sich zur Vernunft vielmehr umgekehrt wie in Thätigkeit setzende; denn die Phantasiebilder sind für die Vernunft was die Farben für das Sehvermögen. Und sonach wird die Thätigkeit des Erkennens vollendet und geschlossen in der Vernunft, so daß die entsprechenden Tugenden in der Vernunft selber sind. II. Gilt dasselbe. III. Das Gedächtnis wird nicht als Teil der Klugheit bezeichnet, als ob es eine Gattung wäre und die Klugheit die allgemeine Art, so daß es also eine eigene Tugend vorstellte; sondern wie eine Vorbedingung, insoweit ein gutes Gedächtnis der Klugheit dient.
