Fünfter Artikel. Die Tugend in der Vernunft kann nicht sein ohne die moralische.
a) Es scheint dies doch. Denn: I. Die Vollendung dessen, was früher ist, hängt nicht ab von der Vollendung dessen, was nachher ist. Die Vernunft aber ist früher als das sinnliche Begehren und setzt dieses in Thätigkeit. Also hängt die Tugend, welche die Vernunft vollendet, nicht ab von der moralischen Tugend, welche den begehrenden Teil vollendet. II. Das Moralische ist Gegenstand der Klugheit, wie das Kunstwerk Gegenstand ist der Kunst. Die Kunst aber kann sein ohne das Kunstwerk; wie der Schlosser z. B. ohne das Eisen. Also kann auch die Klugheit sich finden ohne die moralischen Tugenden; und somit a fortiori jede Tugend in der Vernunft, da die Klugheit am meisten mit den moralischen Tugenden verbunden ist. III. Die Klugheit ist gut beratend. (6 Ethic. 9.) Viele aber können gut raten, ohne daß sie moralische Tugenden haben. Also kann die Klugheit ohne moralische Tugend sein. Auf der anderen Seite steht der Wille, Übles zu thun, unmittelbar gegenüber der moralischen Tugend. Der Klugheit nun steht es ebenso unmittelbar gegenüber, daß jemand vorsätzlich, mit Willen, einen Fehler macht, wie 6 Ethic. 5. gesagt wird. Also kann die Klugheit nicht sein ohne moralische Tugend.
b) Ich antworte, die anderen Tugenden in der Vernunft wohl, nicht aber die Klugheit könne ohne moralische Tugend bestehen. Denn die Klugheit ist die rechte Richtschnur des Wirkens selber; nicht nur im allgemeinen, sondern soweit es auf den einzelnen Fall ankommt. Eine solche Richtschnur in der Vernunft erfordert aber Principien, von denen die Vernunft ausgehe. Nun dürfen diese Principien nicht ganz und gar nur allgemeine sein, sondern es müssen auch besondere, aufs Einzelnste anwendbare dabei sich finden. Rücksichtlich der allgemeinen Principien nun hat der Mensch von Natur das Verständnis der Grundprincipien wie z. B. „das Übel ist zu meiden;“ und von da aus kann er dann weiter vorgehen. Dies genügt aber nicht. Denn der Begierliche z. B. urteilt, sobald die Begierde siegt, dieses Einzelne, wonach seine Begierde im Augenblicke ihn treibt, sei für ihn gut und deshalb zu thun; und so wird für den einzelnen Fall das allgemeine Urteil der Vernunft: das nämlich, wonach die ungeregelte Begierde strebt, sei zu meiden, verdorben durch das Urteil im einzelnen Falle, was von der Leidenschaft diktiert wird: hier nämlich unter diesen einzelnen Umständen sei der Gegenstand der Begierde ein Gut. So nun bedarf der Mensch, wie er der Wissenschaft oder des Verständnisses benötigt, um die allgemeinen Principien festzuhalten, für die Einzelverhältnisse gleichermaßen der Vollendung rücksichtlich der Principien für das einzelne Wirken. Diese Principien aber sind die Zwecke. Damit also der Mensch zu diesen Zwecken im richtigen Verhältnisse stehe und so gleichsam wie von Natur, recht urteile über den vorliegenden einzelnen Zweck, so bedarf er solcher Zustände, die sein Begehrvermögen vernunftgemäß vollenden; und dies geschieht durch die moralische Tugend. Denn der Tugendhafte urteilt recht über den Zweck der Tugend; „weil jedem so beschaffen der Zweck erscheint, wie beschaffen er selber ist.“ (3 Ethic. 5.) Und so bedarf es für die Klugheit der Verbindung mit den moralischen Tugenden,
c) I. Soweit die Vernunft den Zweck erfaßt, geht sie dem Streben oder Begehren des Zweckes vorher. Letzteres aber geht vorher der Vernunft, insoweit diese die Mittel sucht und wählt, um den Zweck zu erreichen; dies aber gerade gehört der Klugheit an. So ist ja auch im Bereiche des Beschaulichen oder Spekulativen das Verständnis der Principien der Anfang des Schließens von Einem zum Anderen. II. Die Principien, nach denen Kunstwerke hergestellt werden, unterliegen nicht unserer guten oder schlechten Beurteilung gemäß der Beschaffenheit unseres Begehrens, wie dies bei den Zwecken der Fall ist, den Principien im Bereiche des Moralischen; sondern diese Kunstwerke werden einfach beur teilt gemäß der Erwägung der Regeln der Vernunft. Die Kunst verlangt deshalb nicht eine Tugend, die das Begehren vollendet; wie dies die Klugheit thut. III. Die Klugheit ist nicht nur gut beratend, sondern auch gut urteilend und gut befehlend; dies aber kann nicht sein, wenn nicht die Leidenschaften entfernt sind als Hindernisse, die das Urteil der Klugheit und ihr Gebot verderben. Eben aber die moralische Tugend entfernt dieses Hindernis.
