Vierter Artikel. Die moralische Tugend kann nicht sein ohne die in der Vernunft.
a) Dem steht gegenüber: I. Die moralische Tugend ist nach Cicero (l. c.) „ein Zustand, welcher der Vernunft gemäß ist nach Weise der Natur.“ Dies kann aber sein, ohne daß diese Vernunft in ein und demselben Subjekte mit der moralischen Tugend verbunden sei; wie dies bei den leblosen Dingen erscheint. Also braucht eines Menschen Vernunft nicht vollendet zu sein durch eine Tugend; und trotzdem kann die moralische Tugend ihn in der Weise der Natur zum Vernunftgemäßen hinneigen. II. Es trifft sich oft, daß diejenigen, in welchen der Gebrauch der Vernunft nicht stark ist, tugendhaft sind und Gott angenehm. Da also durch die Tugend in der Vernunft die Anwendung dieser letzteren, der Vernunft nämlich, vollendet wird, so braucht nicht immer die Tugend in der Vernunft mit der moralischen verbunden zu sein. III. Die moralische Tugend giebt die Hinneigung zum guten Wirken. Viele aber haben solche Hinneigung von Natur ohne Urteil der Vernunft. Also ist letzteres nicht notwendig. Auf der anderen Seite sagt Gregor (22. moral. 1.): „Die übrigen Tugenden sind keineswegs Tugenden, wenn man nicht das, wonach sie streben, mit Klugheit thut.“ Klugheit aber ist eine Tugend in der Vernunft.
b) Ich antworte, die moralische Tugend könne wohl sein ohne Weisheit, Wissenschaft und Kunst; nicht aber ohne Klugheit und Verständnis der Principien. Ohne Klugheit nun kann die moralische Tugend keineswegs sein. Denn jede moralische Tugend ist ein Zustand, der eine gute Auswahl bewirkt. Zur guten, rechten Wahl aber gehört 1. die Richtung auf den gebührenden Zweck; und dies kommt von der moralischen Tugend; — und 2. daß der Mensch recht wähle und abschätze das, was zum Zwecke dient; und das kann nicht sein ohne Vernunft, die da recht rät, gut urteilt und entschieden befiehlt; — was nichts Anderes als die Tugend der Klugheit ist. Da nun aber die Principien, sowohl im Spekulativen wie im Praktischen, um gut zu untersuchen und zu urteilen, nur durch „das Verständnis der Principien“ gekannt sein können, so ist auch letztere Tugend erfordert.
c) I. Eine solche natürliche, mit der Natur gegebene Hinneigung ist ohne Auswahl. Also paßt das hier nicht; da die moralische Tugend immer ein Auswählen bedingt. II. Der Tugendhafte braucht nicht Vernunft zu haben für alles Mögliche; sondern nur für sein Handeln, daß es der Tugend gemäß sei. Und diesen Gebrauch der Vernunft hat jeder Tugendhafte, mag er auch einfältig erscheinen vor der Welt in deren Wissenschaft. Deshalb heißt es Matth. 10.: „Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben.“ III. Die natürliche Hinneigung zum Guten einer Tugend ist wohl der Anfang einer Tugend, aber sie ist keine vollendete Tugend. Denn je schärfer eine solche Hinneigung hervortritt, je stärker sie also ist; desto gefährlicher kann sie werden, wenn nicht die rechte Vernunft hinzutritt, welche abmißt und wählt, was der Erreichung des Zweckes dient. So stößt ein starkes Pferd, wenn es schnell läuft, desto stärker an die Mauer und verletzt sich, je mehr es bei seiner Stärke blind ist. Mag also auch die moralische Tugend, wie Sokrates meinte, nicht gerade die rechte Vernunft selber sein; jedoch ist sie nicht nur gemäß der rechten Vernunft, insoweit sie dazu hinneigt, was vernunftgemäß ist, wie die Platoniker annahmen; sondern sie muß auch immer mit der rechten Vernunft zusammen bleiben, wie Aristoteles sagt. (6 Ethic. ult.)
