Erster Artikel. Es giebt Kardinaltugenden unter den moralischen.
a). Keine moralische Tugend darf als Kardinal- oder Haupttugend bezeichnet werden. Denn: I. Was Unterabteilung ist in der gleichen „Art“, darf nicht einer anderen Unterabteilung gegenüber als hauptsächlich bezeichnet werden. Alle Tugenden aber sind gleichmäßig Unterabteilungen der „Art“ Tugend. II. Der Zweck ist hauptsächlicher wie das dem Zwecke Dienende. Die theologischen Tugenden aber gehen direkt auf den Zweck; die moralischen nur auf das Zweckdienliche. Also sind die ersteren vielmehr Kardinaltugenden. III. An erster Stelle steht, was dem Wesen nach etwas ist; und es folgt darauf das, was eben dasselbe nur dem Anteile nach ist. Die Tugenden in der Vernunft nun sind „vernünftige“ dem Wesen nach; denn ihr Sitz ist die Vernunft; wogegen die moralischen Tugenden nur in dem sind, was an der Bestimmung seitens der Vernunft Anteil hat. Da also die Tugend wesentlich vernunftgemäß ist, so stehen an erster Stelle die Tugenden, die in der Vernunft selber ihren Sitz haben, als Kardinaltugenden da. Auf der anderen Seite sagt Ambrosius (sup. Luc, c. 6, 8.): „Wir wissen, vier seien an Zahl die Kardinaltugenden: die Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Stärke und Klugheit.“ Dies sind aber moralische Tugenden.
b) Ich antworte, daß, wenn man von Tugend schlechthin spricht, immer die menschliche verstanden wird. Zur menschlichen Tugend aber, soll sie anders eine vollkommene sein, gehört die Geradheit des Begehrens. Denn sie giebt nicht nur eine Fertigkeit, um zu wirken, sondern auch den guten Gebrauch derselben; während die unvollkommene Tugend nur das erstere giebt. Es steht aber das Vollkommene voran dem Unvollkommenen. Jene Tugend also, welche die Geradheit des Begehrens in sich enthält, ist hauptsächlicher wie die, welche bloß eine Fertigkeit verleiht, gut zu wirken. Dies sind nun die moralischen Tugenden; während unter den Tugenden in der Vernunft nur die Klugheit dazu gehört, nämlich den rechten Gebrauch der betreffenden Fertigkeit giebt. Die Klugheit ist aber, nach ihrer Materie zu urteilen, gewissermaßen eine moralische Tugend. Zulässigerweise also bezeichnet man als „hauptsächliche“ oder Kardinaltugenden moralische.
c) I. Wann die „Art“ in ihre Gattungen in der Weise geteilt wird, daß das Wesen und der Name der Art in den Gattungen ganz genau wiederkehrt, also es sich um ein genus univocum handelt, wie animal in rationale et irrationale geteilt wird; dann stehen sich die Untergattungen ganz gleichmäßig und jede mit demselben Rechte gegenüber, mag auch der Natur der Sache nach eine Gattung in ihrem Inhalte vollendeter sein wie die andere. So steht der Mensch in der Wirklichkeit über den Tieren; in der logischen Einteilung des Sinnbegabten jedoch in vernünftig und vernunftlos steht er den Tieren gleich. Gilt es aber die Einteilung eines genus analogum, wo das Wesen der Art nicht in jeder Unterabteilung genau das gleiche ist, sondern die eine Unterabteilung mit mehr Recht und früher an der Art teil hat wie die andere, so kann die eine hauptsächlicher sein wie die andere, sobald das Gemeinsame in Betracht gezogen wird; wie z. B. die Substanz hauptsächlicher „Sein“ genannt wird wie das Accidens oder die hinzutretende Eigenschaft, die nur durch die Substanz erst Sein gewinnt. Zur letzteren Einteilung gehört die der Tugend in die verschiedenen Arten und Gattungen, denn bei ihr wird das Gute der Vernunft mehr gefunden in der einen wie in der anderen; z. B. mehr in den Tugenden, die den Gebrauch ebenfalls einschließen wie in jenen, die bloß eine Fertigkeit verleihen. II. Die theologischen Tugenden sind über die Kräfte des Menschen; sie werden deshalb nicht menschliche, sondern „göttliche“ genannt. III. Die Tugenden in der Vernunft stehen zwar an erster Stelle, soweit es ihr Subjekt oder ihren Sitz, die Vernunft, anbelangt; aber nicht, soweit es auf den Wesenscharakter der Tugend ankommt, ausgenommen die Klugheit. Denn der Gegenstand der Tugend ist das Gute, was Gegenstand des begehrenden Teiles ist.
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