Erster Artikel. Es giebt theologische Tugenden.
a) Das scheint nicht. Denn: I. „Tugend ist eine Verfassung in dem, was bereits nach einer Seite hin vollendet ist, zum Besten nämlich hin; ich nenne aber vollendet, was in guter Verfassung ist gemäß seiner Natur“. So Aristoteles 7 Physic. Was aber göttlich ist, das ist über die Natur des Menschen. Also die theologischen Tugenden sind keine Tugenden des Menschen. II. Die theologischen Tugenden werden göttliche genannt. Solche aber sind die eben erwähnten Exemplartugenden, die nicht in uns, sondern in Gott sind. Also wohnen dem Menschen keine theologischen Tugenden inne. III. Durch die theologischen Tugenden soll der Mensch zu Gott hin geordnet werden als zu seinem Princip und seinem letzten Endzwecke. Das ist aber der Mensch schon kraft seiner Natur. Auf der anderen Seite sind die im Gesetze enthaltenen Vorschriften auf Tugendakte gerichtet. Es werden aber Vorschriften gegeben mit Rücksicht auf Glaube, Hoffnung und Liebe. So Ekkli. 2.: „Die ihr Gott fürchtet, glaubet Ihm“ und ebenso: „Hoffet auf Ihn“; „Liebet Ihn“. Also sind Glaube, Hoffnung, Liebe Tugenden, die zu Gott hinordnen.
b) Ich antworte; durch die Tugend wird der Mensch vollendet, um so thätig zu sein, daß er zur Seligkeit gelange. Es giebt aber eine doppelte Glückseligkeit: die eine steht zur menschlichen Natur im zukömmlichen Verhältnisse, zu der nämlich der Mensch gelangen kann vermöge der Principien in.seiner Natur. Die andere geht über die Kräfte der menschlichen Natur hinaus; zu ihr kann der Mensch nur gelangen durch göttliche Kraft, insofern er gewissermaßen teilnimmt an der Gottheit, wie Petrus (2, 1.) sagt, durch Christus seien wir geworden „Genossen der göttlichen Natur.“ Und weil diese Seligkeit die Verhältmsse der menschlichen Natur übersteigt; deshalb genügen die natürlichen Principien im Menschen, von denen er ausgeht, um gemäß seinen Verhältnissen gut zu wirken, nicht, um ihn zur besagten Seligkeit hinzuordnen. Also müssen ihm von Gott Principien verliehen werden, vermittelst deren er ebenso zur übernatürlichen Seligkeit in Beziehung tritt wie vermittelst der mit seiner Natur gegebenen Principien er im gebührenden Verhältnisse steht zu dem diesen entsprechenden Zwecke; freilich auch hier nicht ohne göttlichen Beistand. Und derartige Principien werden genannt theologische Tugenden; sowohl weil sie Gott als Gegenstand haben, insoweit durch sie wir in rechter Weise zu Gott hinbezogen werden; als auch weil sie von Gott uns eingegossen werden; endlich weil sie uns die von Gott offenbarte Schrift bekannt macht.
c) I. Es kann einem Dinge eine Natur in doppelter Weise zugeschrieben werden: 1. dem Wesen nach; und so übersteigen die theologischen Tugenden des Menschen Natur; 2. dem Anteile nach, wie das glühende Eisen an der Natur des Feuers Anteil hat; — und in dieser Weise wird der Mensch teilhaft der göttlichen Natur. Und gemäß dieser Teilnahme kommen dem Menschen zu die theologischen Tugenden. II. Sie werden „göttliche“ genannt; nicht weil Gott dadurch tugendhaft wird, sondern weil wir durch sie von seiten Gottes selbst zu Tugendhaften gemacht und zu Gottes Natur hingeordnet werden. Sie sind nicht Exemplartugenden, sondern gemäß diesen geformte Tugenden. III. Insoweit Gott Princip und Zweck für die Natur ist, beziehen der Wille und die Vernunft uns kraft der Natur zu Ihm hin und zwar gemäß den Verhältnissen der Natur. Der Wille und die Vernunft aber genügen dazu nicht; soweit Gott in Sich selber, in seiner Natur dasteht als Gegenstand übernatürlicher Seligkeit.
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