Sechster Artikel. Die Liebe ist unter den theologischen Tugenden die größte.
a) Dagegen spricht Folgendes: I. Der Glaube ist in der Vernunft, die Hoffnung und Liebe im begehrenden Teile. Also steht der Glaube zu den letzteren im selben Verhältnisse wie die Tugenden in der Vernunft zu den moralischen. Die Tugend in der Vernunft steht aber da als die größere nach Art. 3. Also ist der Glaube größer als Liebe und Hoffnung. II. Was zu einem Anderen hinzugefügt wird, scheint größer zu sein wie dieses Andere. Die Hoffnung aber scheint zur heiligen Liebe hinzugefügt nach Augustin (Enchir. 8.), denn von der Hoffnung wird die Liebe vorausgesetzt; die Hoffnung nämlich fügt hinzu eine gewisse Bewegung des Hingehens zum geliebten Gegenstande. Also ist die Hoffnung größer als die Liebe. III. Die Ursache ist wichtiger wie die Wirkung. Glaube und Hoffnung aber sind die Ursache der Liebe, wie die Glosse zu Matth. 1, 1. sagt: „Der Glaube erzeugt die Hoffnung und diese die Liebe.“ Auf der anderen Seite sagt der Apostel 1. Kor. 13.: „Nun bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größere aber von diesen ist die Liebe.“
b) Ich antworte, die Größe der Tugend in ihrer Gattung betrachtet hänge ab von dem Gegenstande. Nun berücksichtigen alle drei theologischen Tugenden Gott als ihren unmittelbaren Gegenstand; also kann nur jene größer sein, die zu diesem einen Gegenstande näher hinzutritt. Und da ist die Liebe größer als die beiden anderen. Denn die beiden anderen schließen ihrer Natur nach eine gewisse Entfernung vom Gegenstande ein; der Glaube nämlich richtet sich auf das Nichtgeschaute, die Hoffnung auf das Nichtbesessene. Die heilige Liebe aber richtet sich gewissermaßen auf das, was bereits besessen wird. Denn der geliebte Gegenstand ist im Liebenden und auch der Liebende wird durch die ihm innewohnende Hinneigung gezogen zur Einigung mit dem Geliebten; weshalb 6. Ioh. 4. es heißt: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“
c) I. So verhält sich denn der Glaube nicht zur Hoffnung und zur Liebe, wie die Klugheit zur moralischen Tugend. Und dies aus zwei Gründen: 1. Die theologischen Tugenden haben einen über die menschliche Seele erhabenen Gegenstand; die Klugheit aber und die moralischen Tugenden richten sich auf die Regelung dessen, was unter dem Menschen ist. In dem nun, was über dem Menschen ist, erscheint die Liebe erhabener und edler wie die Kenntnis. Denn die Kenntnis wird vollendet dadurch, daß das Erkannte im Erkennenden ist; die Liebe aber dadurch, daß der Liebende gezogen wird zum geliebten Gegenstande. Was nun über dem Menschen ist, das hat ein erhabeneres und edleres Sein in sich selbst wie im Menschen; denn ein Jegliches ist im Anderen nach der Weise, wie dieses Andere Sein hat. Was aber unter dem Menschen ist, das ist erhabener und edler im Menschen wie in sich selbst aus demselben Grunde. 2. Die Klugheit leitet die Bewegungen des begehrenden Teiles, welche den moralischen Tugenden angehören. Der Glaube aber leitet nicht die Thätigkeit des Begehrens nach Gott hin, die da zu den theologischen Tugenden gehört; sondern zeigt nur den Gegenstand. Diese Bewegung selber des begehrenden Teiles zum Gegenstande, zu Gott hin, überragt weit alle menschliche Kenntnis nach Ephes. 3, 19.: „Die allüberragende Liebe der Wissenschaft Christi.“ II. Die Hoffnung setzt die Liebe zu dem voraus, was jemand für sich zu erreichen hofft; und das ist die Liebe der Begierlichkeit, auior concupiscentia. Kraft dieser Liebe nämlich liebt jemand vielmehr sich selbst, d. h. den, der das Gut begehrt, wie etwas Anderes. Die heilige Liebe aber schließt in sich ein die Liebe und Freundschaft, zu der man durch die Hoffnung gelangt. (Kap. 40, Art. 7.) III. Die Ursache, welche vollendet, ist wichtiger und steht höher wie die Wirkung; nicht aber jene, welche nur vorbereitet. Denn sonst wäre die Wärme des Feuers höher im Sein wie die Seele, für die sie den Stoff im Körper vorbereitet, damit die Seele nähren kann; was falsch ist. Insoweit aber der Glaube vorbereitet, soweit er das Vermögen der Seele bereit macht, zeugt er die Hoffnung und gleichermaßen diese die Liebe.
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