Fünfter Artikel. Die Weisheit ist unter den Tugenden in der Vernunft die größte.
a) Dagegen scheint größer zu sein: I. Die Klugheit; denn sie befiehlt der Weisheit, wie Aristoteles sagt (l Ethic. 2.): „Die öffentliche Klugheit, die nämlich für das Gemeinbeste sorgt, schreibt vor, welche unter den Wissenszweigen im Staate gepflegt werden müssen und welche und bis zu welchem Punkte ein jeder sie lernen soll.“ Unter diesen Wissenszweigen aber ist die Weisheit enthalten. II. Zur Natur der Tugend gehört es, daß sie den Menschen hinordnet zur Seligkeit hin; denn die Tugend ist „eine Verfassung zum Besten hin“ 7 Physic. Die Klugheit aber ist „die rechte Richtschnur in dem, was man wirkt“, wodurch der Mensch zur Glückseligkeit geführt wird; während die Weisheit jene menschlichen Akte nicht berücksichtigt, vermittelst deren man die Seligkeit erwirbt. Also ist die Klugheit eine größere Tugend wie die Weisheit. III. Je vollkommener eine Kenntnis ist, desto höher scheint sie zu stehen. Eine vollkommenere Kenntnis aber scheinen wir haben zu können von den menschlichen Dingen, worauf sich die Wissenschaft richtet, wie von den göttlichen, die Gegenstand der Weisheit sind, wie Augustin unterscheidet (14. de Trin. 14.), da die göttlichen Dinge unbegreiflich sind nach Job 36.: „Siehe, groß ist Gott, er überwindet unsere Wissenschaft.“ Also steht die Wissenschaft höher wie die Weisheit. IV. Die Kenntnis der Principien steht an Würde höher wie die der Schlußfolgerungen. Die Weisheit aber zieht Schlußfolgerungen aus unbeweisbaren Principien, auf welche „das Verständnis der Principien“ als Zustand sich richtet. Also ist der letztere Zustand eine größere Tugend wie die Weisheit. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (6 Ethic. 7.): „Die Weisheit ist wie das Haupt unter den Tugenden in der Vernunft.“
b) Ich antworte, die Größe einer Tugend der Gattung nach werde erschlossen vom Gegenstande aus. Der Gegenstand der Weisheit ragt aber über den Gegenstand jeder anderen Tugend der Vernunft weit hervor; denn sie richtet sich auf die höchste Ursache. (1 Metaph. cap. 1. et 2.) Und insofern vermittelst der Ursache geurteilt wird über die Wirkung und vermittelst der höheren Ursache über die niederen, so gehört der Weisheit das Urteil zu über alle Tugenden in der Vernunft; und ihre Sache ist es, allen die nötige Ordnung aufzulegen, wie der Baumeister gleichsam unter ihnen allen.
c) I. Da die Klugheit sich auf die menschlichen Angelegenheiten richtet, die Weisheit aber auf die höchste Ursache, so „ist es unmöglich“ nach 6 Ethic. 7. „daß die Klugheit die größere Tugend sei; es müßte denn das Beste in der Welt der Mensch sein.“ Die Klugheit also schreibt der Weisheit nicht vor, sondern das Umgekehrte ist vielmehr der Fall; denn „der geistige Mensch beurteilt Alles und er wird von niemanden beurteilt“ 1. Kor. 2. Die Klugheit nämlich darf sich nicht in die höchsten Dinge hineinmischen, welche Gegenstand der Weisheit sind. Vielmehr schreibt sie rücksichtlich dessen nur vor, was zur Weisheit Beziehung hat, wie nämlich die Menschen zur Weisheit gelangen sollen; und darin ist sie Dienerin der Weisheit, denn sie führt zu ihr und bereitet ihr den Weg wie der Pförtner dem Könige. II. Die Klugheit berücksichtigt die Dinge, durch die man zur Seligkeit gelangt. Die Weisheit aber betrachtet den Gegenstand selber der Seligkeit, der da ist das höchste Erkennbare. Und wenn diese Betrachtung der Weisheit eine vollendete wäre rücksichtlich ihres Gegenstandes, so wäre die vollkommene Glückseligkeit im Akte der Weisheit. Weil aber die entsprechende Thätigkeit der Weisheit rücksichtlich ihres Gegenstandes, der Gott ist, unvollendet ist, deshalb ist die Thätigkeit der Weisheit nur ein Beginn der künftigen Seligkeit; und so steht sie näher der Seligkeit wie die Klugheit. III. Aristoteles (1. de anima) sagt: „Die eine Kenntnis wird der anderen vorgezogen entweder deshalb weil ihr Gegenstand würdiger ist oder auf Grund der ihr innewohnenden Gewißheit.“ Sind also bei zwei Kenntnissen die Gegenstände gleich an Würde, so steht jene höher, welche mehr Gewißheit in sich schließt. Wenn aber die minder gewisse höhere und edlere Gegenstände betrifft, so wird sie vorgezogen der mehr gewissen, die aber niedrigere Gegenstände berücksichtigt. „Etwas Großes ist es,“ sagt deshalb Aristoteles (2. de coelo), „etwas zu wissen von den himmlischen Dingen, wenn es auch wenig und schwach begründet ist;“ und an einer anderen Stelle: „Vorzuziehen ist es, wenig zu wissen von höheren und edleren Sachen als Vieles von niedrigeren.“ Jene geringe Kenntnis also auch, welche uns die Weisheit über Gott in diesem Leben vermittelt, ist vorzuziehen jeder anderen Kenntnis. IV. Die Kenntnis und die Wahrheit der unbeweisbaren Principien hängt ab von der Auffassung dessen, was die Ausdrücke, die termini, enthalten. Wer nämlich auffaßt, was das Ganze ist und was der Teil, der weiß sogleich, daß das Ganze größer als sein Teil ist. Erkennen und auffassen aber, was „Sein“ und „Nichtsein“ ist, was „ein Ganzes“ und was „ein Teil“ und dergleichen, was aus dem Sein folgt, woraus wie aus den Abschlußpunkten die unbeweisbaren Principien gebildet werden, das gehört zur Weisheit. Und sonach gebraucht die Weisheit nicht nur die unbeweisbaren Principien und den entsprechenden Zustand, um Schlüsse zu ziehen, was auch die anderen Wissenschaften thun, sondern sie urteilt auch über diese Principien und disputiert mit denen, die sie leugnen. Also ist die Weisheit eine größere Tugend wie das „Verständnis der Principien“.
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