Erster Artikel. Das Laster steht entgegen der Tugend.
a) Das Gegenteil erhellt aus Folgendem: I. Nur immer Eines ist im Gegensatze zu Einem, nicht Mehreres. Der Tugend aber ist entgegengesetzt die Sünde und zudem noch die Bosheit; also nicht das Laster. II. Die Tugend bezeichnet eine gewisse Vollendung des Vermögens. Das Laster aber bezeichnet nichts, was Beziehung hätte zu einem Vermögen. III. Cicero sagt (4 Tuscul.): „Die Tugend ist eine gewisse Gesundheit der Seele.“ Der Gesundheit aber ist entgegengesetzt die Krankheit; nicht aber das Laster. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de perf. justitiae cap. 2.). „Das Laster ist eine Eigenschaft, kraft deren schlecht ist der Geist.“ Die Tugend aber „macht gut den, der sie hat.“ Also besteht da ein Gegensatz.
b) Ich antworte, rücksichtlich der Tugend können wir zweierlei betrachten; nämlich das Wesen selbst der Tugend und das, worauf die Tugend sich bezieht. In dem Wesen der Tugend kann etwas beobachtet werden, was mit zu diesem Wesen gehört; und etwas, was daraus folgt. Ihrem Wesen nach nun schließt die Tugend ein in sich eine gewisse Verfassung dessen, dem die Tugend zukommt, wonach dieser sich gemäß seiner Natur in zukömmlicher Weise verhält. Dies sagt Aristoteles (7 Physic.): „Die Tugend ist eine Verfassung in dem, was bereits vollständig Sein hat zum Besten hin; ich sage nun vollständig, nämlich soweit es gemäß seiner Natur diese Verfassung hat.“ Daraus aber folgt, daß die Natur ein gewisses Gutsein, eine Güte ist. Denn darin besteht das Gutsein eines jeden Dinges, daß es sich verhält gemäß seiner Natur. Das nun, worauf jegliche Tugend sich bezieht, ist die gute Thätigkeit, wie aus Kap. 55, Art. 3. u. Kap. 56, Art. 3. hervorgeht. Danach also steht dreierlei im Gegensatze zur Tugend: 1. die Sünde; und diese steht entgegen von seiten dessen, wozu die Tugend hingeordnet ist; denn die Sünde bezeichnet eine ungeregelte Thätigkeit, wie der Tugendakt ein gebührend geregelter Akt ist; — 2. die Bosheit oder Schlechtigkeit; und diese steht gegenüber der Tugend von seiten dessen, daß diese ein Gutsein, eine Güte ist; — 3. das Laster; und das ist der Tugend entgegengesetzt, insoweit diese ein innerliches Wesen hat; denn Laster oder Fehler ist die Verfassung eines Dinges, welche nicht dessen Natur entspricht. Deshalb sagt Augustin (3. de lib. arb. 4.): „Wenn du siehst, daß etwas der Vollendung einer Natur mangelt, so nenne das Fehler und im Bereiche des Moralischen: Laster“.
c) I. Jene drei Dinge stehen nicht der nämlichen Beziehung nach im Gegensatze zur Tugend. Denn die Sünde steht ihr entgegen, soweit die Tugend Gutes wirkt; — die Bosheit, soweit die Tugend ein Gutsein, eine Güte bedeutet; — das Laster oder allgemeiner der Fehler, soweit die Tugend wesentlich Tugend ist. II. Die Tugend schließt nicht nur die Vollendung eines Vermögens ein, sondern auch die gebührende Verfassung dessen, dem die Tugend zugehört. Denn jegliches Ding ist thätig, je nachdem es thatsächliches Sein hat. Damit also etwas das Gute wirke, muß es in guter Verfassung sein; und danach ist das Laster entgegengesetzt der Tugend. III. Cicero sagt (l. c.): „Krankheiten und Schwächen sind Teile der Fehlerhaftigkeit.“ Im Bereiche des Körperlichen nun nennt er „Krankheit“: die Verderbtheit des ganzen Körpers, wie z. B. Fieber u. dgl.; — „Schwächen“: die von der Krankheit zurückgelassene Hilflosigkeit; — „Fehler“, wenn die Teile oder Organe des Körpers untereinander in keinem guten Verhältnisse stehen. Und nun kann wohl beim Körper jemand innerlich krank sein, ohne daß er hilflos oder schwach ist, insofern er noch gut seiner Arbeit nachzugehen vermag. Bei der Seele aber ist dies nicht möglich; da kann Schwäche nur dem Gedanken nach von Krankheit unterschieden werden. Denn notwendigerweise muß ein Wesen, welches innerlich auf Grund seiner ungeregelten Hinneigungen in schlechter Ordnung sich befindet, von da aus schwach werden mit Beziehung auf die entsprechenden Thätigkeiten. Denn „jeder Baum wird erkannt aus seinen Früchten.“ „Fehler aber der Seele“ (also Laster) nennt man „einen Zustand oder eine Hinneigung, die während des ganzen Lebens immer unbeständig ist und in sich selber im Zwiespalte sich findet.“ (Cicero l. c.) Und das wird gefunden manchmal ohne Krankheit oder Schwächen, wenn nämlich jemand nicht aus bösem Willen, also ohne schlechten Zustand in der Seele, aus Unüberlegtheit oder infolge des Ungestüms einer Leidenschaft sündigt. Sonach hat „Laster“ oder Fehler eine umfassendere Bedeutung wie „Schwäche“ oder „Krankheit“; wie auch „Tugend“ weiter ist wie „Gesundheit“. Denn Gesundheit wird auch (7 Physic.) als eine gewisse Tugend bezeichnet; und so steht gerade der Fehler oder das Laster unmittelbar der Tugend entgegen.
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