Zweiter Artikel. Das Laster ist gegen die Natur.
a) Dies scheint nicht der Fall zu sein. Denn: I. Das Laster ist im Gegensatze zur Tugend. Die Tugend aber wohnt uns nicht von Natur inne; sondern infolge Eingießens oder auf Grund der Angewohnheit. II. Was gegen die Natur ist, kann nicht zur Gewohnheit werden, wie ein Stein niemals sich daran gewöhnen wird, in die Höhe zu steigen. (2 Ethic. 1.) Manchmal aber wird das Laster zur Gewohnheit. III. Was gegen die Natur ist, wird nur in wenigeren Einzeldingen dieser Natur gefunden, niemals in der Mehrzahl. Laster aber werden in der Mehrzahl der Menschen gefunden, wie Matth. 7. es heißt: „Breit ist der Weg, welcher zum Verderben führt; und viele wandeln denselben.“ Also ist das Laster nicht gegen die Natur. IV. Die Sünde verhält sich zur Tugend wie die Thätigkeit zu einem Zustande. Die Sünde aber wird begrifflich bestimmt als „etwas Gesprochenes, Gethanes oder insoweit man begehrt gegen das göttliche Gesetz,“ wie aus Augustin (contra Faustum 22, 27.) hervorgeht. Da nun das göttliche Gesetz über der Natur ist, so ist das Laster vielmehr gegen das Gesetz Gottes, wie gegen die Natur. Auf der anderen Seite ist „jedes Laster oder jeder Fehler eben schon insoweit gegen die Natur,“ nach Augustin. (3. de lib. arb. 13.)
b) Ich antworte, die Tugend sei im Gegensatze zum Laster. Nun ist die Tugend eine Verfassung indem, worin sie ist, welche gemäß der Natur dasteht. Also ist das Laster oder der Fehler deshalb gerade Laster oder Fehler, weil die Natur entgegensteht; und gerade deshalb wird etwas getadelt, was fehlerhaft ist. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Natur eines jeden Dinges in erster Linie die bestimmende Wesensform ist, der gemäß das betreffende Ding einer bestimmten Gattung zugehört. Der Mensch nun gehört zu seiner Gattungsstufe auf Grund der vernünftigen Seele als der bestimmenden Form. Was also gegen die Ordnung der Vernunft ist, das ist recht eigentlich gegen die Natur des Menschen, soweit er Mensch ist. Und was gemäß der Richtschnur der Vernunft ist, das ist gemäß der Natur des Menschen als solchen. „Das dem Menschen entsprechende Gute besteht darin, daß er gemäß der Vernunft ist; das Übel für ihn ist, der vernünftigen Ordnung entgegen zu sein,“ sagt Dionysius. (4. de div. nom.) Die menschliche Tugend also ist insoweit geeignet, den Menschen und sein Werk gut zu machen als sie der Vernunft und somit der menschlichen Natur gemäß ist; das Laster aber ist deshalb Laster und gegen die menschliche Natur gerichtet, weil es gegen die vernünftige Ordnung ist.
c) I. Die Tugenden werden allerdings nicht von seiten der Natur verursacht gemäß dem vollendeten thatsächlichen Sein. Sie neigen aber hin zu dem, was der Natur gemäß ist d. h. nach der Ordnung der Vernunft. Deshalb sagt Cicero (2. de invent.): „Tugend wird ein Zustand genannt, der nach Weise der Natur der Vernunft gemäß ist.“ Und so ist das Laster gegen die Natur. II. Aristoteles spricht hier von dem, was der Natur entgegensteht, soweit dieses „gegen die Natur“ entgegengesetzt ist dem „von der Natur selbst sein“; nicht aber spricht er hier in dem Sinne, insoweit etwas gemäß der Natur und etwas Anderes nicht gemäß der Natur ist. Im letzteren Sinne aber sind die Tugenden gemäß der Natur, insofern sie hinneigen die Vermögen zu dem, was der Natur entspricht. III. Im Menschen ist die sinnliche und die vernünftige Natur. Und weil der Mensch vermittelst der Thätigkeit der Sinne zur Thätigkeit der Vernunft kommt, insoweit durch die Sinne der Gegenstand für das vernünftige Erkennen vorbereitet wird; deshalb bleiben viele bei den Sinnen stehen und folgen vielmehr der sinnlichen Neigung wie der vernünftigen Regel. Denn die Mehrzahl gelangt wohl dazu, eine Sache zu beginnen; wenige aber, sie zu vollenden. Und daher kommen die Fehler und Laster, daß man dem sinnlichen Teile viel lieber folgt wie der Vernunft. IV. Was gegen die Natur des Kunstwerkes sich richtet, das ist auch gegen die Natur der betreffenden Kunst. Das ewige Gesetz aber ist das für die Ordnung der Vernunft, was die Kunst ist für ein Kunstwerk. Also ist dies ganz dem nämlichen Ursprünge zugehörig, daß Laster und Sünde gegen die Ordnung der menschlichen Vernunft sind und zugleich gegen das ewige Gesetz sich richten. Denn „von Gott haben alle Naturen, was an Natur in ihnen ist; sie sind fehlerhaft, insoweit sie sich entfernen von der Kunst, die sie hervorgebracht.“ (August. 3. de lib. arb. 6.)
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