Erster Artikel. Die Sünden verknüpft kein wechselseitigem Band.
a) Dagegen spricht: I. Jakob. 2. heißt es: „Wer das ganze Gesetz beobachtet, jedoch in einem Gebote fehlt, ist schuldig aller Gebote.“ Also hat er alle Gebots vernachlässigt, gegen alle gesündigt und somit alle Sünden begangen; denn, sagt Ambrosius: „Die Sünde ist das Überschreiten des göttlichen Gesetzes; ist Ungehorsam den himmlischen Geboten gegenüber.“ (de parad. 8.) Wer also in Einem sündigt, der unterliegt allen Sünden. II. Jede Sünde schließt aus die gegenüberstehende Tugend. Wer aber einer Tugend ermangelt, dem fehlen alle nach Kap. 65, Art. 1. Also wer in einem Punkte sündigt, entbehrt aller Tugenden. III. Weil die Tugenden in einem einzigen Princip sich zusammenfinden, sind alle Tugenden miteinander verknüpft. Aber auch die Sünden haben zusammen ein einziges Princip. Denn wie die Liebe Gottes, welche die Stadt Gottes aufbaut, das Princip und die Wurzel ist von allen Sünden; so ist die Liebe zu sich selbst, welche den Staat Babel herstellt, die Wurzel und das Princip aller Sünden, nach Augustin. (Civ. Cei 14, 28.; et in Ps. 64.) Also sind alle Laster und Sünden miteinander verbunden. Auf der anderen Seite stehen sich manche Laster einander gegenüber nach 2 Ethic. 8. Also können, da entgegengesetzte Laster nicht in ein und derselben Person sind, die Sünden und Laster nicht verknüpft sein.
b) Ich antworte, daß die Absicht des Thätigseienden sich anders verhalt, wenn es um die Kraft sich handelt, der Vernunft zu folgen; und anders, wenn von der Vernunft abgewichen wird. Denn wer der Tugend gemäß handelt, hat die Absicht, der Richtschnur der Vernunft zu folgen; deshalb richtet sich in allen Tugenden die Absicht auf das Nämliche und sonach sind alle Tugenden untereinander verknüpft in der rechten Richtschnur des Thätigseins, die da ist die Klugheit. Die Absicht des Sünders aber ist nicht die, von dem Vernunftgemäßen abzuweichen; sondern vielmehr darin besteht sie, daß er nach einem Gute begehrt, von dem her die Sünde ihre Gattung erhält. Derartige Güter aber sind verschieden; und haben, insoweit sie von der Vernunft abweichen, keine Verbindung untereinander, vielmehr sind sie oftmals einander entgegengesetzt. Da nun Laster und Sünden ihre Gattung hernehmen vom Guten, dem sie sich zuwenden, so haben sie offenbar von da her, wovon die Vollendung der Gattungswesen herrührt, keine Verbindung untereinander. Denn die Sünde wird nicht dadurch begangen, daß man von der Vielheit zur Einheit herantritt, wie dies bei den Tugenden der Fall ist; sondern die Sünden als Sünden entfernen sich gerade von der Einheit.
c) I. Der Apostel spricht hier von den Sünden nicht auf Grund der Zuwendung zu einem Zwecke, wonach sie voneinander unterschieden werden, sondern auf Grund der Abwendung vom letzten Endzwecke, insoweit durch die Sünde der Mensch abweicht vom Gebote des Gesetzes. Alle diese Gebote aber sind von ein und demselben, wie Jakobus da sagt; der nämliche Gott also wird in jeder Sünde verachtet. Und deshalb fügt er hinzu: „Wer in Einem beleidigt, wird schuldig aller Sünden.“ Denn wer in einer Sünde fällt, wird der Strafe schuldig, weil er Gott verachtet, den zu verachten oder zu beleidigen der Ursprung für die Schuld in allen Sünden ist. II. Nicht durch einen jeden beliebigen Sündenakt wird die entgegengesetzte Tugend hinweggenommen; denn die läßliche Sünde zuvörderst nimmt die Tugend nicht hinweg. Die Todsünde aber entfernt die eingegossene Tugend, insoweit sie von Gott entfernt; während nicht ein einzelner Akt der Todsünde die erworbene Tugend zerstört, sondern erst vervielfältigte Akte, insoweit sie den der Tugend entgegengesetzten Zustand erzeugen. Ist aber eine Tugend entfernt, so ist auch zugleich die Klugheit entfernt, da der Mensch, indem er gegen welche Tugend auch immer handelt, immer zugleich gegen die Klugheit handelt, ohne welche keine moralische Tugend sein kann, nach Kap. 58, Art. 4., und Kap. 65, Art. 1. Und so werden alle moralischen Tugenden ausgeschlossen, insoweit deren vollendetes und formales Sein als Tugend in Betracht kommt, welches sie nur haben, insofern sie an der Klugheit teilnehmen. Es bleiben jedoch zurück die Hinneigungen zu den Thätigkeiten der Tugenden, die allerdings nicht den vollgültigen Charakter der Tugend besitzen. Daraus folgt jedoch nicht, daß darum der Mensch alle Laster und alle Sünden begeht: 1. weil einer Tugend mehrere Laster gegenüberstehen, so daß die Tugend schwinden kann wegen eines dieser Laster, ohne daß die anderen mit dabei sein müssen; — 2. weil die Sünde insoweit unmittelbar der Tugend entgegengesetzt ist als die Hinneigung der Tugend zum entfprechenden Thätigsein in Betracht kommt. Da also immer einige tugendhafte Hinneigungen zurückbleiben, so kann man nicht sagen, der Mensch habe alle entgegenstehenden Laster oder Sünden. III. Die Liebe Gottes ist ihrem Wesenscharakter nach ansammelnd, insoweit sie die Neigung des Menschen vom Vielfältigen zum Einen hinleitet; und deshalb sind die Tugenden, die ja aus der Liebe hervorgehen, miteinander verbunden. Die Liebe zu sich selbst aber zerstreut die Neigung des Menschen zu Verschiedenem hin, insoweit der Mensch sich liebt im Begehren von zeitlichen Gütern, die mannigfach und verschiedenartig sind; und deshalb umschließt die Sünden und Laster kein einheitliches Band.
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