Zweiter Artikel. Die Sünden sind nicht alle einander gleich.
a) Dies scheint jedoch so zu sein. Denn: I. Sündigen besagt „thun, was nicht erlaubt ist.“ Dies aber wird ganz gleicherweise in allen Sünden getadelt. Also Sündigen wird ganz gleichermaßen in allen Sündern getadelt. Somit sind alle Sünden einander gleich. II. Jede Sünde überschreitet die Regel der Vernunft; die dasselbe ist, wie im Körperlichen die Linie als Richtschnur. Mag nun jemand weiter oder weniger weit von der Richtschnur der gezogenen Linie abweichen, es findet dies immer mit Bezug auf die Linie gleicherweise statt; denn das Mangelhafte ist gleicherweise mangelhaft, mag es mehr oder mag es minder mangelhaft sein. Also sind die Sünden als solche einander gleich. III. Die Sünden sind entgegengesetzt den Tugenden. Alle Tugenden aber sind einander gleich, wie Cicero sagt. (Parad. 3.) Auf der anderen Seite sagt der Herr zu Pilatus (Joh. 19.): „Wer mich dir überliefert hat, dessen Sünde ist größer;“ wo doch Pilatus sicher eine Sünde hatte.
b) Ich antworte; was Cicero da sagt, war die Meinung der Stoiker. Und daraus leitet sich ab der Irrtum mancher Irrlehrer, die da sagen, weil alle Sünden einander gleich wären, seien auch die Strafen in der Hölle alle einander gleich. Die Stoiker nämlich betrachteten die Sünde nur von seiten der Abwendung vom letzten Zwecke oder von der Vernunftregel, wie dies aus Cicero zu ersehen ist; und sowie sie annahmen, daß es bei keinem Mangel auf ein mehr oder minder ankäme, so nahmen sie auch an, alle Sünden seien gleich. Jedoch besteht, wenn man sorgfältig nachdenkt, eine doppelte Art von Mangel. Denn 1. besteht ein reiner Mangel, ein Mangel schlechthin, der nichts Anderes ist wie das Vergehen; z. B. der Tod, welcher der Mangel des Lebens ist und die Finsternis, die da Mangel an Licht ist. Ein solcher Mangel nun ist dem mehr oder minder unzugänglich, denn es bleibt vom Gegenteil nichts zurück. Sonach ist jemand nicht in höherem Grade tot am ersten Tage wie nach Jahren, wo der Leichnam bereits zersetzt ist; und ähnlich ist ein Haus nicht in höherem Grade finster, wenn das Licht mit mehreren Hüllen verdeckt ist oder nur mit einer, die alles Durchleuchten abschneidet. Ein anderer Mangel jedoch besteht 2., wenn etwas vom entgegengesetzten Zustande zurückbleibt; wo freilich der Mangel vielmehr im Werden ist wie im Sein. So entfernt die Krankheit die gebührende gegenseitige Abmessung der Säfte, so aber daß immer etwas vom Gleichmaße zurückbleibt, sonst wäre nicht mehr ein lebendes Wesen da. Derartiges Mangelhafte also ist einem mehr und minder zugänglich von seiten dessen, was vom gegenteiligen Zustande zurückbleibt. Viel nämlich kommt bei der Krankheit darauf an, ob ein mehr oder minder großes Abweichen von der gleichmäßigen Abmessung der Säfte zurückbleibt. Und ähnlich muß man von den Lastern und Sünden sprechen. Denn bei ihnen tritt in der Weise ein Mangel an der gebührenden Richtschnur der Vernunft ein, daß die Ordnung der Vernunft nicht ganz und gar aufgehoben wird; da das Übel, würde es ganz und gar herrschen, sich selbst zerstören müßte, nach 4 Ethic. 5. Es könnte nämlich nicht zurückbleiben die Substanz der Thätigkeit und nicht die Hinneigung des Handelnden, wenn nicht etwas zurückbliebe von der Ordnung der Vernunft. Viel also kommt bei der Sünde darauf an, ob man mehr oder minder abweicht von der Regel der Vernunft. Und danach sind die Sünden nicht einander gleich.
c) I. Sünden zu begehen ist nicht erlaubt wegen einer gewissen Unordnung und Regellosigkeit, die ihnen innewohnt. Wenn also einer Sünde eine größere Unordnung innewohnt, ist sie um so mehr unerlaubt und sonach größer. II. Die Sünde ist kein reiner Mangel. III. Die Tugenden haben in ein und demselben Menschen ein gleichmäßiges Verhältnis zu einander. Jedoch ist die eine Tugend an Würde größer wie die andere gemäß ihrer Gattung Und ein Mensch ist tugendhafter wie der andere in ein und derselben Gattung der Sünde. (Vgl. Kap. 66, Art. 1. u. 2.) Und wären auch die Tugenden einander alle gleich, so würde noch nicht folgen, daß dies auch die Laster sind; denn die Tugenden sind untereinander verbunden.
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