Erster Artikel. Die Unkenntnis ist Ursache von Sünde.
a) Dem steht entgegen: I Die Unkenntnis ist ein Nichtsein; also kann sie nicht verursachen. II. Die Ursachen der Sünde bemißt man von der Seite der Zuwendung zu einem (Schein-) Gute. Die Unkenntnis aber schließt Abwendung ein. III. Alle Sünde ist im Willen, der nur auf etwas Gekanntes sich richtet; denn einzig das erfaßte Gut ist Gegenstand des Willens. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de natura et grat. 67.): „Manche sündigen aus Unkenntnis.“
b) Ich antworte; die bestimmende oder bewegende Ursache wirkt entweder an und für sich, mit Absicht; oder absichtslos. Im ersteren Falle bewegt sie kraft eigenen Vermögens und drückt ihre Form ein; im zweiten entfernt sie ein Hindernis oder ist selber die Entfernung eines Hindernisses. Und in letzterer Weise ist die Unkenntnis Ursache des Sündenaktes; denn sie ist der Mangel an Wissenschaft in der Vernunft, welche verhindert die Sünde, insoweit sie berufen ist, die menschlichen Thätigkeiten zu leiten. Die Unkenntnis ist also die Entfernung dieses Hindernisses für die Sünde, nämlich der genauen Kenntnis. Nun hat die menschliche Vernunft 1. eine Kenntnis gemäß allgemeinen Grundsätzen; und 2. eine Kenntnis, die auf besondere einzelne Fälle geht. Denn indem sie das zu Wirkende miteinander vergleicht, gebraucht sie einen Syllogismus, dessen Schlußfolgerung ein Urteil ist, eine Auswahl oder eine Thätigkeit. Die Thätigkeiten aber beschäftigen sich immer mit Einzelnem. Also ist die Schlußfolgerung eines solchen Syllogismus immer eine auf das Besondere, Einzelne gehende. Eine derartige Schlußfolgerung nun erhält man aus allgemeinen Grundsätzen nur vermittelst eines Satzes, der besondere Verhältnisse berücksichtigt. So wird der Mensch am Vatermorde verhindert durch das allgemeine Princip: „Der Vater darf nicht getötet werden“ und durch den auf das Einzelne gehenden Satz: „Dieser ist der Vater.“ Die Unkenntnis nun sowohl des allgemeinen Princips wie auch eines solchen auf das Besondere gehenden Satzes kann den Akt des Vatermordes verursachen. Nur jene Unkenntnis also ist Ursache der Sünde, welche entfernt das Hindernis für die Sünde, nämlich die nötige Wissenschaft. Wäre also jemand in der inneren Verfassung, daß er den Vater töten wollte, auch wenn er wüßte, das sei der Vater, so würde die Unkenntnis im einzelnen Falle daß dies der Vater ist keine Ursache des Vatermordes sein, sondern diesen nur begleiten. Ein solcher sündigt „in Unwissenheit“, nicht auf Grund derselben.
c) I. An sich kann ein Nichtsein nicht verursachen, wohl aber als Entfernung des Hindernisses. II. Von der Seite der Zuwendung zum (Schein-)Guten her ist die Unkenntnis Ursache der Sünde; als entfernend das Hindernis. III. Wenn etwas nach einer Seite hin bekannt ist und nach der anderen nicht, so kann der Wille es wollen; — und so ist die Unkenntnis Ursache der Sünde; wie wenn jemand weiß, dies sei ein Mensch; aber nicht, es sei sein Vater.
