Zweiter Artikel. Die Unkenntnis selbst ist zuweilen Sünde.
a) Die Unkenntnis scheint nicht Sünde sein zu können. Denn: I. Sünde nennt man „ein Begehren oder ein Wort oder eine That gegen das göttliche Gesetz.“ Die Unkenntnis aber schließt weder einen inneren noch einen äußeren Akt ein. II. Die Sünde ist unmittelbar mehr entgegengesetzt der Gnade wie der Wissenschaft. Der Mangel an Gnade aber ist keine Sünde; also auch nicht der Mangel an Wissenschaft. III. Die Unkenntnis kann nur Sünde sein, insoweit sie eine frei gewollte ist. Dann aber besteht die Sünde mehr im Willensakte wie in der Unkenntnis. Also ist die Unkenntnis höchstens etwas der Sünde Folgendes. IV. Alle Sünde wird durch die Reue hinweggenommen; nur die Erbsünde bleibt dem thatsächlichen Sein nach, trotzdem die Schuld entfernt worden. Die Unkenntnis aber wird durch die Reue nicht hinweg genommen, sondern bleibt dem thatsächlichen Sein nach; selbst wenn alle Schuld getilgt ist. Also ist sie keine Sünde, außer etwa die Erbsünde. V. Wäre die Unkenntnis Sünde, so sündigte der Mensch ohne Aufhören, so lange die Unkenntnis bleibt. Nun bleibt die Unkenntnis aber beständig im Unwissenden. Also wäre sie die schwerste Sünde, was offenbar falsch ist. Auf der anderen Seite verdient nichts Strafe wie die Sünde. 1. Kor. 14. aber heißt es: „Ist jemand in Unkenntnis, so wird man ihn nicht kennen.“
b) Ich antworte; die Unkenntnis, wie sie hier genommen wird, schließt ein im Gegensatze zur Unwissenheit, welche reines Nichtwissen bedeutet, den Mangel an einem Wissen, was jemand haben kann und haben müßte. Das aber ist jeder gehalten zu wissen, ohne was er die gebührende Thätigkeit nicht entfalten kann. Alle müssen also wissen die allgemeinen Glaubensartikel und die allgemeinen Rechtsprincipien. Zudem muß jeder wissen das, was zu seinem Stande und zu seinem Amte gehört. Anderes aber, was der Mensch wohl wissen kann, ist er nicht gehalten zu wissen; wie z. B. die Lehrsätze der Geometrie, die einzelnen Thatsachen der Geschichte, außer im genannten Falle. Offenbar nun begeht jener, der vernachlässigt, daß er habe oder thue, was er gehalten ist zu haben oder zu thun, eine Unterlassungssünde. Infolge der Nachlässigkeit ist demnach hier die Unkenntnis Sünde. Weiß jemand aber nicht, was er zu wissen nicht gehalten ist oder nicht wissen kann, so ist dies keine Sünde. Kann der Mensch etwas nicht wissen, so nennt man dies: „unüberwindliche“ Unkenntnis. Eine solche Unkenntnis also, da es nicht in der Macht des Betreffenden liegt, sie zu überwinden, ist weder freiwillig noch infolge dessen Sünde. Ist aber die Unkenntnis zu überwinden, so ist sie Sünde, wenn sie das betrifft, was jemand wissen soll; sie ist nicht Sünde, wenn sie das betrifft, was zu wissen jemand nicht verpflichtet ist.
c) I. Auch die entgegengesetzten Verneinungen und Unterlassungen sind bei dieser Definition mit inbegriffen. (Vgl. Kap. 71, Art. 6 ad I.) Insoweit also etwas unterlassen worden, was man begehren, sagen oder thun müßte, um die gebührende Wissenschaft zu erwerben, besteht da Sünde. II. Der Mangel an Gnade kann Sünde sein infolge der Nachlässigkeit, sich zu derselben vorzubereiten; wie dies auch bei der Wissenschaft der Fall ist. Zudem kann wohl der Mensch die Wissenschaft erlangen kraft eigener Thätigkeiten; nicht aber die Gnade, die ein Geschenk Gottes ist. III. In der Begehungssünde besteht die Sünde nicht bloß im reinen Willensakte, sondern auch im gewollten Akte, der befohlen ist vom Willen. Und ebenso ist in der Unterlassungssünde nicht nur der Willensakt Sünde, sondern auch die Unterlassung selber, insoweit sie in etwa gewollt ist. Danach ist also die Nachlässigkeit selbst oder die Unüberlegtheit Sünde. IV. Insoweit die Unkenntnis Sünde ist, bleibt sie nicht nach der Erlassung der Schuld. Sie bleibt nur als Mangel an Wissen. V. Wann es Zeit ist, Wissenschaft zu erwerben, die er nötig hat, und der Betreffende aus Nachlässigkeit sie nicht erwirbt; dann ist die Sünde vorhanden. Denn nur zu jener Zeit sündigt man, wo das affirmative Gebot verpflichtet, etwas zu thun. Also nicht immer sündigt der Unwissende.
