Dritter Artikel. Die Unkenntnis entschuldigt nicht ganz und gar von der Sünde.
a) Dies scheint jedoch der Fall zu sein. Denn: I. „Alle Sünde ist freiwillig.“ Die Unkenntnis aber verursacht das Unfreiwillige. (Kap. 6, Art. 8.) II. Die Absicht kann nicht auf das gehen, was unbekannt ist. Was aber jemand ohne Absicht thut, das ist nebensächlich, per accidens; und giebt somit nicht das Gattungswesen. Nichts also darf als Sünde oder als tugendhaft hingestellt werden, was der Mensch aus Unkenntnis thut. III. AIs vernünftiges Wesen nur ist der Mensch Sitz der Tugend und der Sünde. Die Unkenntnis aber schließt aus die Wissenschaft, wodurch die Vernunft vollendet wird. Also schließt sie die Sünde aus. Auf der anderen Seite sagt Augustin (3. de lib. arb. 18.): „Manches, was aus Unkenntnis geschieht, wird mit Recht gemißbilligt.“ Dies ist aber nur bei den Sünden der Fall. Also Manches, was aus Unkenntnis geschieht, ist Sünde.
b) Ich antworte, allerdings habe die Unkenntnis es von sich aus, daß sie die Thätigkeit, welche von ihr verursacht wird, entschuldigt d. h. zu einer unfreiwilligen macht. Denn die Unkenntnis verursacht jene Thätigkeit, welche, wenn das der Unkenntnis entgegengesetzte Wissen vorhanden gewesen, von diesem aus verhindert worden wäre; also würde, falls das Wissen existiert hätte, eine solche Thätigkeit gegen den Willen gewesen sein und somit unfreiwillig. Würde jedoch das Wissen, auch wenn es existierte, den Akt nicht hindern, weil eben der Wille zu letzterem hinneigt, so macht die entgegengesetzte Unkenntnis nicht, daß der Akt unfreiwillig ist. Und dasselbe gilt von jeder Unkenntnis, die den Akt nur begleitet oder ihm folgt. Nur jene Unkenntnis also, welche der Grund ist, daß die Thätigkeit oder der betreffende Akt sich vollzieht, hat es, weil eben der aus ihr folgende Akt unfreiwillig ist, an sich, daß sie entschuldigt vor der Sünde; denn Unfreiwilligkeit schließt die Sünde aus. Daß aber Unkenntnis manchmal nicht ganz entschuldigt, beruht auf zweierlei. Es ist dies 1., insoweit jemand wohl in Unkenntnis ist rücksichtlich eines Umstandes im Akte, der, wenn er ihn wüßte, ihn vom sündigen Akte zurückziehen würde; jedoch bleibt in ihm noch so viel Wissen, daß er wohl erkennt, der betreffende Akt sei Sünde. So z. B. kann jemand wohl erkennen, daß derjenige, welchen er tötet, ein Mensch ist, was zum Charakter der Sünde genügt; aber er weiß nicht, daß er sein Vater ist, einen Umstand, der eine neue Gattung Sünde herstellt; — oder es kann jemand den anderen angreifen, nicht wissend, daß jener sich verteidigen und ihn schlagen werde, was, wenn er es wüßte, ihn vom Angreifen abhalten würde. In diesen Fällen entschuldigt die Unkenntnis nicht ganz und gar von der Sünde; denn es bleibt noch eine gewisse Kenntnis übrig. Es kann 2. jemand die Unkenntnis selber wollen, so daß sie freiwillig ist; oder er kann wegen der damit verbundenen Mühe nachlässig sein, das zu lernen, was vom Sündigen abzieht. Dann entschuldigt also die Unkenntnis gleichfalls nicht ganz und gar.
c) I. Nicht jede Unkenntnis verursacht Unfreiwilligkeit und somit entschuldigt nicht jede ganz und gar. II. Insoweit Freiwilligkeit zurückbleibt im Unwissenden, bleibt auch die Sünde; und somit ist letztere nicht absichtslos oder per accidens. III. Wenn die Unkenntnis durchaus den Gebrauch der Vernunft nimmt, so besteht keine Sünde, wie bei den Wahnwitzigen. Nicht aber ist eine derartige die Unkenntnis, welche eine Ursache der Sünde bildet.
