Sechster Artikel. Es giebt ein Gesetz des Fleisches.
a) Das scheint unwahr zu sein. Denn: I. Das Gesetz ist der Vernunft zugehörig; von welcher das Fleisch und sein Stachel oft abweicht. II. Jedes Gesetz ist verpflichtend. Niemand aber ist verpflichtet, dem Stachel des Fleisches zu folgen; vielmehr ist er Übertreter eines Gesetzes, wenn er dem Stachel des Fleisches nachgiebt. III. Das Gesetz wird hingeordnet zum allgemeinen Besten. Der Stachel des Fleisches aber neigt nicht zum Gemeinbesten, sondern vielmehr zum Privatvorteil hin. Auf der anderen Seite sagt Paulus (Röm. 7.): „Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerspricht dem Gesetze meines vernünftigen Geistes.“
b) Ich antworte, das Gesetz finde sich dem Wesen nach im Regelnden und Messenden; dem Anteile nach aber im Geregelten und Gemessenen, so daß jede Hinneigung oder Richtschnur, die sich findet in dem einem Gesetze Unterliegenden, diesem Anteile oder der Teilnahme nach „Gesetz“ genannt wird. Nun kann in dem, was dem Gesetze unterliegt, eine Hinneigung in zweifacher Weise vom Gesetzgeber aus gefunden werden: einmal, indem letzterer seine Untergebenen unmittelbar hinneigt zu etwas und bisweilen zu verschiedenen Thätigkeiten, wonach z. B. ein anderes Gesetz ist das der Soldaten und ein anderes das der Kaufleute; — dann mittelbar, insoweit, wenn der Gesetzgeber einen Untergebenen von dessen Würde absetzt, daraus folgt, daß dieser in eine andere Ordnung und damit gleichsam in ein anderes Gesetz übergeht, wie z. B. wenn ein Soldat aus den Soldatenreihen gestrichen wird, er übergeht in das Gesetz, welches für Landleute oder Handelsleute gilt. So nun haben unter dem göttlichen Gesetzgeber die verschiedenen Kreaturen verschiedene natürliche Hinneigungen, so daß was für den einen Gesetz ist für den anderen etwas Gesetzwidriges bedeutet. So kann man sagen, wütend zu sein, sei z. B. das Gesetz des Hundes, wogegen es gegen das Gesetz des Lammes ist. Es ist also für den Menschen Gesetz und zwar nach seiner eigensten von Gott verliehenen Natur, daß er gemäß der Vernunft thätig ist; welches Gesetz bereits im Urzustände des Menschen wirksam war, so daß dem Menschen nichts entschlüpfen konnte, was außerhalb der Vernunft oder gegen selbige war. Seit aber der Mensch von Gott abfiel, wird er getrieben vom Ungestüm der Sinnlichkeit; und ein jeder unter den Menschen in desto höherem Grade, je mehr er von der Vernunft abwich. Damit wird der Mensch, sozusagen, den Tieren ähnlich, nach Ps. 48: „Da der Mensch in Ehren war, hat er es nicht verstanden; den vernunftlosen Tieren ist er vergleichbar geworden und ähnlich ward er ihnen.“ Deshalb nun hat die Hinneigung der Sinnlichkeit, die da „Stachel des Fleisches“ genannt wird, in den anderen sinnbegabten Wesen den wahren Charakter des Gesetzes; nämlich gemäß der direkt gewallten Hinneigung des Gesetzes. Bei den Menschen aber ist dies vielmehr ein Abweichen vom Gesetze der Vernunft. Und nur, inwieweit der Mensch kraft der göttlichen Gerechtigkeit von der Urgerechtigkeit und von der Kraft der Vernunft abgefallen ist, trägt der Ungestüm der Sinnlichkeit selber, der ihn leitet, den Charakter des Gesetzes. Dieses Gesetz aber ist ein Strafgesetz und folgt auf Grund des göttlichen Gesetzes dem Menschen, der da abgefallen ist von der ihm eigenen Würde.
c) I. Der Einwurf geht aus vom Stachel des Fleisches an sich betrachtet, sofern er zum Bösen hinneigt. So aber hat er nicht den Charakter eines Gesetzes, sondern soweit er die Folge ist von der Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes. Ähnlich würde man es „Gesetz“ nennen, wenn ein Adeliger wegen seiner Schuld zugelassen würde zur Verrichtung von Sklavenarbeiten. II. Der „Stachel des Fleisches“ ist nicht in der Weise Gesetz wie eine Regel oder ein Maßstab, so daß die davon Abweichenden Gesetzesübertreter würden; sondern vermittelst einer gewissen Teilnahme am Gesetze wie oben gesagt. III. Die Hinneigung der Sinnlichkeit, wie sie in den übrigen sinnbegabten Wesen ist, wird hingeordnet zum Gemeinbesten, nämlich zur Erhaltung der Natur im Einzelwesen oder in der Gattung; und das hat auch im Menschen statt, wenn die Sinnlichkeit der Vernunft unterworfen ist. „Stachel des Fleisches“ wird die Sinnlichkeit genannt, insoweit sie der Regel der Vernunft sich entzieht.
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