Fünfter Artikel. Es giebt mehrere göttliche Gesetze.
a) Das göttliche Gesetz ist nur eines. Denn: I. Ein König in einem Reiche hat nur ein Gesetz. Das ganze Menschengeschlecht aber steht im Verhältnisse zu Gott wie zu einem Könige, wonach es im Ps. 46 heißt: „Der König der ganzen Erde, Gott.“ Also besteht nur ein göttliches Gesetz. II. Nur einer ist der Zweck, den Gott als Gesetzgeber beabsichtigt, nach I. Tim. 2.: „Gott will, daß alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Also ist nur ein Gesetz. III. Das göttliche Gesetz steht dem ewigen näher wie das natürliche, das nur eines ist. Auf der anderen Seite heißt es Hebr. 7, 12.: „Wenn das Priestertum übertragen ist, so muß auch die Übertragung des Gesetzes stattfinden.“ Es giebt aber ein Levitisches Priestertum und ein Priestertum Christi. Also giebt es auch ein doppeltes göttliches Gesetz.
b) Ich antworte, nach dem in I. Kap. 30, Art. 2 und 3 Gesagten sei der Unterschied die Ursache der Zahl. Nun giebt es einen Unterschied der Gattung nach wie zwischen Pferd und Ochs; und einen Unterschied in der nämlichen Gattung zwischen Unvollkommenem und Vollkommenem, wie zwischen Knabe und Mann. Und in der letzten Weise ist der Unterschied aufzufassen zwischen Altem und Neuem Gesetze. Deshalb vergleicht der Apostel (Gal. 3.) den Standpunkt des Alten Gesetzes dem des Kindes, das unter einem Zuchtmeister steht; und den des Neuen dem des vollendeten Mannes, der die Grenzen der Erziehung bereits hinter sich hat. Dieses Vollkommene und Unvollkommene im Gesetze aber wird erwogen gemäß drei Momenten, die zum Gesetze gehören: 1. Das Gesetz regelt gemäß dem Gemeinbesten als dem Zwecke. Das Gute aber, was es regelt, kann sein entweder das irdische, sinnlich wahrnehmbare; und dazu ordnete das Alte Gesetz hin, so daß da Exod. 3. im Beginne des Gesetzes das Volk eingeladen wurde zum irdischen Herrschen über das Land der Kananäer; — oder das himmlische, rein vernünftige Gut; und dazu ordnet hin das Neue Gesetz; so daß Christus im Beginne seiner öffentlichen Wirksamkeit predigte: „Thuet Buße, denn es hat sich genahet das Himmelreich.“ Deshalb sagt Augustin (4. contra Faustum 2.), daß Verheißungen zeitlicher Dinge im Alten Testamente enthalten sind, wonach es eben „Altes“ heißt; die Verheißung des ewigen Lebens aber gehöre zum Neuen Testamente. 2. Das Gesetz regelt die menschlichen Thätigkeiten gemäß der Gerechtigkeit. Und danach regelt das Neue Gesetz auch die inneren Akte der Seele, nach Matth. 5.: „Wenn nicht höher steht euere Gerechtigkeit wie die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht eintreten in das Himmelreich.“ Deshalb sagt man, das Alte Gesetz zügele die Hand, das Neue den Geist. Das Gesetz soll die Menschen anleiten zur Beobachtung der Gebote. Dies that das Alte Gesetz durch die Furcht vor Strafe, das Neue durch die Liebe, welche in unseren Herzen ausgegossen wird durch den heiligen Geist, der uns gegeben ward; nämlich durch die Gnade Christi, die im Alten Bunde vorgebildet, im Neuen verliehen wurde. Deshalb sagt Augustin (cont. Adamantium, Manichaeum c. 17.): „Gering ist der Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Gesetze: Furcht und Liebe.“
c) I. Wie der Familienvater in seinem Hause andere Vorschriften den Kindern giebt und andere den Erwachsenen, so gab der eine König, Gott, ein anderes Gesetz den noch unvollkommenen Menschen und ein anderes den Menschen, die durch das frühere bereits angeleitet waren zu größerer Fassungskraft rücksichtlich des Göttlichen. II. Alles Heil der Menschen konnte nur durch Christum sein, nach Act. 4.: „Kein anderer Name ist den Menschen gegeben, damit wir dadurch selig werden.“ Deshalb konnte jenes Gesetz, das in vollkommener Weise zum Heile führt, erst nach Christi Ankunft gegeben werden. Vorher aber mußte dem Volke, aus dem Christus geboren werden sollte, ein vorbereitendes Gesetz gegeben werden für die Aufnahme des Herrn, in welchem einige Grundlinien der Heilsgerechtigkeit enthalten waren. III. Das natürliche Gesetz leitet den Menschen gemäß einigen den Vollkommenen und Unvollkommenen gemeinsamen Vorschriften; und deshalb ist es eines für alle. Das göttliche Gesetz aber leitet auch mit Rücksicht auf besondere Einzelheiten, zu denen Vollkommene und Unvollkommene nicht im gleichen Verhältnisse stehen; und danach sind da zwei Gesetze.
