Sechster Artikel. Das Alte Gesetz leitete zulassigerweise zur Beobachtung der Vorschriften an durch Verheißung zeitlicher Güter.
a) Dies scheint nicht zulässig gewesen zu sein. Denn: I. Das göttliche Gesetz will den Menschen Gott unterwerfen durch Liebe und Furcht, wonach Deut. 10. es heißt: „Und nun, Israel, was Anderes verlangt der Herr, dein Gott, von dir, als daß du fürchtest Gott, den Herrn, und in seinen Wegen wandelst und Ihn liebest?“ Die Begierde nach zeitlichen Gütern führt aber von Gott ab; wie Augustin sagt: „Das Gift der heiligen Liebe ist die Begierde.“ (83 Qq. 36.) Also Zeitliches durfte im „Gesetze“ nicht versprochen oder angedroht werden. II. Das göttliche Gesetz muß höher stehen als das menschliche; wie auch in den Wissenschaften, je höher eine steht, desto höher ihr Beweismittel ist. Da also das menschliche Gesetz mit zeitlichen Strafen und Versprechungen vorgeht, durfte dies nicht das göttliche thun. III. Das kann keine Belohnung der Tugend und keine Strafe für Schuld sein, was gleichmäßig den Guten und Bösen vorkommt. Ekkle. 9. aber heißt es: „Alles glückt oder mißglückt gleichmäßig, ob man gerecht oder ungerecht, gut oder schlecht, rein oder unrein sei und Opfer darbringe oder sie verachte.“ Auf der anderen Seite sagt Isai. 1.: „Wenn ihr wollt und auf Mich hört, sollt ihr von den Gütern der Erde essen; wollt ihr nicht und reizet ihr Mich zum Zorne, so wird das Schwert euch vertilgen.“
b) Ich antworte, wie in den Wissenschaften die Menschen angeleitet werden, um den Schlußfolgerungen zuzustimmen, durch syllogistische Beweismittel, so werden die Menschen zur Beobachtung der Gesetze angeleitet durch Strafen und Belohnungen. Wie aber zudem in der Wissenschaft die Beweismittel vorgelegt werden nach der Fassungskraft der Hörer, so muß jener, der den Menschen zur Beobachtung der Gesetze anleiten will, ihn anfänglich bestimmen durch das, wozu dieser Mensch Hinneigung hat. Kindern z. B. giebt man ihrem Alter angemessene Geschenke. Das Alte Gesetz nun bereitete vor für das Heil in Christo, wie etwas Unvollkommenes vorbereitet zum Vollkommenen; es wurde also einem noch unvollkommenen Volke gegeben im Vergleich zu jener Vollkommenheit, die durch Christum in der Zukunft war. Dieses Volk wird somit einem Kinde verglichen Gal. 3., das noch unter dem Lehrmeister steht. Die Vollkommenheit des Menschen besteht nun darin, daß er mit Verachtung des Zeitlichen dem Geistigen anhängt, nach Phil. 3.: „Was hinter mir ist, vergesse ich; und strecke mich aus nach dem hin, was noch vor mir liegt…; wer also auch immer vollkommen ist, der soll so denken.“ Da nun den Unvollkommenen es zukommt, zeitliche Güter zu erstreben, immer freilich mit Beziehung auf Gott; den Verkehrten aber, daß sie ihren Endzweck setzen in zeitliche Güter; — so kam es dem Alten Gesetze zu, durch zeitliche Güter, zu denen unvollkommene Menschen hinneigen, die Menschen zu Gott zu führen.
c) I. Die Begierde, welche ihren Endzweck findet in zeitlichen Gütern, ist Gift für die Liebe. Die Erreichung zeitlicher Güter aber, die der Mensch mit Beziehung auf Gott verlangt, ist ein gewisser Weg, welcher die Unvollkommenen zur Liebe Gottes führt, nach Ps. 48.: „Er wird Dich preisen, wenn Du ihm wohlgethan hast.“ II. Das menschliche Gesetz leitet an vermittelst Strafen und Belohnungen, welche von den Menschen kommen; das göttliche Gesetz vermittelst Strafen und Belohnungen, die von Gott kommen; und somit geht es durch die Mittelstufen hindurch zu Höherem. III. Wie die Geschichte des Alten Testamentes darthut, war die Lage des auserwählten Volkes selber, solange es das Gesetz beobachtete, immer eine glückliche. Fiel es von Gott ab, so fiel es auch zugleich in zahlreiches Elend. Aber manche einzelne Personen, die Gott fürchteten, fielen in Trübsale; entweder weil sie schon geistig geworden waren, damit so ihr Herz noch mehr vom Zeitlichen abgezogen würde; oder weil sie bloß äußerlich die Werke der Gerechtigkeit thaten, gemäß Isai. 29.: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen; ihr Herz aber ist weit fern von mir.“
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